Kontaktsperren und Betreuungsengpässe haben Kinder mit Behinderung und ihre Familien besonders hart getroffen. Wie soll der Alltag in der Corona-Krise weitergehen?
Von Julia Latscha //
Wir stehen am Fasanenplatz in Berlin und lauschen einer Mozart-Arie, die vom Balkon geschmettert wird. Es ist früher Abend, mitten in der Woche. Die Bäume blühen, alle Läden sind geschlossen. Viele Menschen haben sich auf dem Platz verteilt, mit ausreichend Abstand und fröhlichen Gesichtern. „Das sind die schönen Seiten von Corona“, flüstert eine ältere Dame hinter ihrer Maske. Da habe sie recht, stimme ich ihr zu. Auch bei mir verblassen für einen kurzen Moment die wirklich hässlichen Gesichter der Auswirkungen durch das Sars-Covid-19-Virus. Zumindest bis zum Applaus.
Auf dem Rückweg fahren wir zurück quer durch die Stadt, vorbei an leeren Parks und durch vereinsamte Straßen. Wir halten an einem Kirchplatz, blicken hinauf in die zweite Etage eines Klinkerbaus. Dort brennt noch Licht. Auch unsere Augen brennen. Hier lebt meine 17-jährige Tochter in einer Wohngruppe für junge Menschen mit Behinderungen. Während des Lockdowns müssen alle Besuche dort und Wochenendbeurlaubungen nach Hause abgesagt werden. Zum Schutze meiner Tochter und all der anderen Mitbewohnerinnen und Mitbewohner, die zu dem vulnerablen Personenkreis zählen. Ganz oder gar nicht, war die Devise. Mein Leben ließ mir keine Wahl und ich musste mich schweren Herzens für das Garnicht entscheiden.
Menschen wie meine Tochter sind von der gegenwärtigen Situation viel mehr betroffen als andere. Nicht wirtschaftlich, sondern menschlich-sozial. Denn dieses Garnicht mäandert durch ihr ganzes Umfeld und Leben. Ich möchte diese Krise nutzen, um zu erzählen, was an Orten gerade geschieht, die für die meisten Menschen unsichtbar sind. Ich will zeigen, was durch die Pandemie gerade jetzt an die Oberfläche kommt. „Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar“, sagte die Schriftstellerin Ingeborg Bachmann. Ich begreife das Erkennen als eine echte Chance.
In den letzten Wochen habe ich auch im Kontakt mit meiner Tochter auf digital umstellen müssen. Wir haben gelernt, uns per Handyvideo Küsse zuzuwerfen. Viele Schulen haben mit der Umstellung ins Zuhauselernen Probleme. Aus der Schule meiner Tochter kam kaum ein Zeichen. Weder digital noch analog. Distanzlernen stand nicht auf dem Plan. Auf Nachfragen schickte die Lehrerin meiner Tochter ein paar Anregungen. Aufgaben wie Rollstuhlfahren und Bewegungsübungen sehe ich aber nicht als Lehrinhalte, auch nicht an einer Förderschule. Es fand einfach kein Unterricht, kein schulischer Austausch und keine Förderung statt.
Hin und wieder erhielt ich eine Nachricht, um zu erfahren, dass nach und nach alle geplanten Praktika im Laufe des zweiten Schulhalbjahres abgesagt werden müssten. Diese Praktika sind die Voraussetzung für einen Beschäftigungsplatz in einer Fördergruppe oder Werkstatt für Menschen mit Behinderungen (in Fördergruppen landen hauptsächlich Menschen mit schweren Mehrfachbehinderungen, denen vom Arbeitsamt eine Werkstattuntauglichkeit attestiert wird). Sie sind die Grundlage für eine Lebensgestaltung nach der Sonderschule.
Nachdem auch die Lockerungsmaßnahmen – ganze sieben Wochen lang Kontaktsperre – in der Wohngruppe meiner Tochter greifen, darf ich sie zu einem einstündigen Spaziergang im Kiez abholen. Zuerst scheint sie mich nicht wiederzuerkennen, dann lüfte ich den Mundschutz und wir brüllen vor Freude. Mit dem Rollstuhl geht es Richtung Eisdiele. Das Leben in den Straßen erwacht. Auf dem Kirchplatz kommt uns eine ehemalige Mitschülerin meiner Tochter entgegen. Sie ruft und winkt. Wir Mütter schaffen es gerade noch, eine Umarmung der Mädchen zu verhindern. „Stop, Corona!“, sagen wir im Chor und machen gleichzeitig mit dem ausgestreckten Arm und der abgewinkelten Hand ein Abstandszeichen. Die beiden Mädchen lachen und berühren sich trotzdem an den Händen. Die soziale Isolation hat tiefe Spuren hinterlassen, gerade auch bei denen, die das „Ganz“ wählen mussten. Ich sehe die Augenringe der anderen Mutter. „Erschöpfung bis zum Umfallen“, sagt sie. Und das ohne Perspektive auf ein Ende der Krise und Zurückfinden in einen lebbaren Alltag.
Viele Eltern von Menschen mit Behinderungen waren vor der Corona-Krise schon unendlich erschöpft. Schuld sind der seit Jahren bestehende Fachkräftemangel, die inadäquate Bezahlung dieser Berufe und das unzureichende Unterstützungssystem für Familien mit herausfordernden Lebensumständen. Deswegen musste meine Tochter auch schon vor ihrem 18. Geburtstag ausziehen. Ich hatte keine Kraft mehr. Und jetzt stehen diese Familien, Eltern, Alleinerziehenden und Menschen mit Behinderungen ziemlich allein da mit den tagtäglichen Anforderungen von Assistenz beim Aufstehen, Essen, Pflegen und Beschäftigen und das rund um die Uhr neben Job und anderen bedürftigen Familienangehörigen. Dieser Alltag ist maximal ein paar Wochen leistbar. Aber was, wenn uns eine zweite Welle einholt?
Sie spürt, dass alles anders ist
Auch die Wohngruppe meiner Tochter befand sich kurz vor dem Kollaps. Von heute auf morgen durften alle Mitbewohnerinnen und Mitbewohner die WG nicht mehr verlassen. Der Wohngruppenleiter war bereits in Quarantäne. Viele stationäre Wohnformen für Menschen mit Behinderungen sind chronisch personell unterbesetzt, schon vor Corona.
Einige Jugendliche der Wohngruppe konnten nicht verstehen, warum sie weder in die Schule noch zum Arbeiten und vor allem auch nicht nach Hause durften. Meine Tochter wollte nicht schlafen und auch nicht essen. Sie hasst Stillstand und Unterbeschäftigung. Dann wird sie richtig laut und weint und brüllt. Ständig ruft sie „Mama“ und „Papa“ im kläglich fragenden Ton. Sie spürt, dass alles anders ist, dass ihre Betreuerinnen wenig Zeit haben, um mit ihr Zahlenspiele und das neue Augensteuerungsprogramm am Computer zu üben. Das Team der Wohngruppe hat Enormes geleistet. Aber was, wenn sie den neuen Herausforderungen nicht mehr standhalten?
Die Krise trifft nicht nur die Wirtschaft, sondern besonders hart ein System, das sowieso schon schwach auf der Lunge ist. Die Pandemie zeigt einmal mehr, dass unsere Sondersysteme wie Förderschulen, Fördergruppen und Werkstätten, Wohn- und Pflegeheime keine sogenannten Schutzräume, sondern – im Gegenteil – Gefahrenzonen geworden sind. Hier leben und arbeiten hauptsächlich Menschen, die zu der Risikogruppe gehören. Aus Mangel an Selbstbestimmung, Selbsterfahrung und Alternativen sind sie hier und nicht an Regelschulen, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt und in inklusiven Wohnformen. Inklusion ist seit elf Jahren, seit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention, ein Menschenrecht. Seit der Corona-Krise sollte Inklusion auch als eine notwendige Bedingung für eine widerstandsfähige und lebendige Gesellschaft sichtbar und spürbar geworden sein.
Diese Krise ist ein fester Fußtritt in den Allerwertesten der Gesellschaft. Ich hoffe, wir fallen nicht auf die Nase.
Das Eis klebt uns an den Händen und tropft auf unsere Füße. Wir genießen die wiedergewonnene Freiheit und die Möglichkeit, aus dem Verborgenen hinauszutreten in eine Welt, in der viel Veränderung ansteht. Zwölf Jahre Förderschule enden. Ohne Abschiedsfest, ohne Abschluss und ohne Perspektive. Meine Tochter freut sich, dass wir bisher keinen passenden Beschäftigungsplatz für sie gefunden haben. Denn die Tagesstruktur und das Angebot dieser Orte, die sie in der Vergangenheit kennenlernen durfte, entsprechen weder ihrem Temperament noch ihren Begabungen. Ihre Freundin arbeitet bereits in einer Fördergruppe. Glücklich ist sie dort nicht. Auch meine Tochter will mehr vom Leben, zum Beispiel Schauspielerin, Tänzerin oder Tierpflegerin werden. Wir laufen zurück zum Kirchplatz.
Meine Tochter wirft die Hände in die Luft und schickt einen Handkuss zu ihrer Freundin. Wir müssen uns trennen und stehen wieder vor der Tür der Wohngruppe. Dieser Sommer wird für viele ein ganz besonderer werden. Auch für uns. Wie feiern wir einen 18. Geburtstag in Zeiten von Corona, wenn der Freundeskreis ausschließlich aus Menschen besteht, die zum vulnerablen Personenkreis gehören? Und wie werden wir das große Nichts nach der Schule füllen? Oder ist genau das die Chance, eine radikal offene Zukunft?
Dieser Artikel erschien zuerst am 5. Juni 2020 auf ZEIT Online