Den Abschied leben lernen

Gastbeitrag des Online-Magazins Prinzip Apfelbaum

Henning Scherf engagiert sich seit Langem für alte Menschen und begleitet Sterbende auf ihrem letzten Weg. Der frühere Bremer Bürgermeister wirbt für einen bewussten Umgang mit dem Lebensende. Sein Rat: Lasst euch ein auf den Abschied! Und das nicht erst am Lebensende.

Ein Interview von Birgit Kummer

Henning Scherf wird im Herbst 80 Jahre alt. Bremens ehemaliger Bürgermeister ist dreifacher Vater, neunfacher Opa und lebt seit 30 Jahren mit seiner Frau in einer Senioren-Wohngemeinschaft, die er mit zehn Freunden gegründet hat. Lange schon engagiert er sich für alte Menschen und begleitet Sterbende auf ihrem letzten Weg. Seine Lebenserfahrungen flossen in mehrere Bücher. Ein viel diskutiertes Werk heißt „Das letzte Tabu“. Darin sprechen sich Scherf und die Soziologin Annelie Keil für einen bewussten Umgang mit dem Lebensende aus. Viel zu oft würden das Sterben, der Tod und die Trauer noch immer verdrängt.

Abschied nehmen, Sterben – das sind für viele Menschen Tabuthemen. Für Sie aber sind es Themen, die zum Leben gehören. Lässt sich zum Abschiednehmen, das uns allen ja irgendwann bevorsteht, etwas Allgemeingültiges sagen?

Für ganz wichtig erachte ich, dass man nicht alleingelassen wird mit einer solchen Aufgabe, sondern Menschen um sich hat, die diese Erfahrung teilen. Das gilt für die Sterbenden und die, die sie begleiten. Es ist eine große Not, dabei allein zu sein.

Wie soll man das planen?

Es ist wichtig, über das Thema nachzudenken, solange es uns gut geht. Rechtzeitig zu überlegen: Wie will ich das haben? Was will ich tun? Wen könnte ich fragen, ob er mich begleitet, bei mir ist? Das können Freunde, Nachbarn, Verwandte sein. Menschen, die man gut kennt, die in der Nähe sind. Man sollte sie ansprechen, darüber reden. Und man sollte sich mit Palliativmedizin befassen.

Dem Fachgebiet, das Schmerzen lindert und Schwerstkranken hilft.

Ich bin ein großer Freund der Palliativmedizin, sie hat erst möglich gemacht, dass wir gemeinsam solche Abschiede bestehen können. Neben nahen Menschen sollte man immer auch Profis bei sich haben, speziell geschulte Ärzt*innen und Schwestern und Pfleger, sogenannte Palliative Care-Teams. Dieser Ausbildung widmet sich an der Universität in Bremen inzwischen ein eigener Ausbildungsgang. Ich glaube, es ist wichtig, sich im Alltag, mitten im Leben, schon mit Palliativmedizin zu befassen, auch mal mit einem/einer Palliativmediziner*in zu reden. Vertrautheit aufbauen. Sich so vorbereiten, dass man weiß: Wenn es mir schlecht geht, ist jemand da.

»Es ist wichtig, rechtzeitig zu überlegen: Wie will ich das haben? Wen könnte ich fragen, ob er mich begleitet, bei mir ist?«

Sie haben schon viele Menschen beim Sterben begleitet. Wie lassen sich diese Abschiede beschreiben?

Es ist jedes Mal anders. Ich habe Abschiede erlebt, die an die Grenze des Erträglichen gingen, die ein großes Hadern, ein großer Kampf waren. Da fielen von Angehörigen auch Sätze wie „Ich kann gar nicht mehr hingucken“. Und andere, die gelungen waren.

Können Sie uns Beispiele schildern?

Anfang Dezember haben wir eine Verwandte begleitet, sie war voll finsterer Gedanken, da war viel Wut und Frust. Es hat uns allen Mühe gemacht, das miteinander zu bestehen. Dann starb eine Nachbarin, wir waren seit 50 Jahren befreundet. Wir haben über den Tod geredet, es war klar, dass er kommt. Wir waren uns so nah in ihrem Sterben, auch ihre Kinder und Enkel haben sich darauf einlassen können. Im Dezember starb auch ein befreundeter katholischer Priester. Wir haben vor seinem Tod lang miteinander gesprochen. Und wir haben uns sehr viel Zeit gelassen beim Auflösen der Wohnung. Wir haben Gegenstände mitgenommen, die er benutzt hatte. Tassen, Bücher. Er ist tot und er lebt in unseren Köpfen und in unserer Erinnerung. Und im Alltag. Auch das ist ein Rat: Dinge der Verstorbenen aufheben, nutzen, bei sich behalten.

Wann immer Sie über „Das letzte Tabu“ sprechen, kommt Ihre Rede auch auf ehrenamtliche Hospizhelfer*innen.

Es gibt mittlerweile bundesweit mehr als 100.000 ehrenamtliche Hospizhelfer*innen. Das ist eine große Bewegung geworden. Es sind so wunderbare Leute, klug, sensibel, lebenszugewandt, menschenfreundlich. Sie nehmen den Sterbenden die Angst, begleiten sie, schenken ihnen ihre Zeit.

Woher nehmen Sie selbst die Kraft, Menschen bis zum Ende zu begleiten?

Ich erlebe dabei sehr intensive Stunden, im Reden und im Schweigen. Ich muss diese Aufgabe nicht allein schultern, ich habe Entlastung. Leute, die mitdenken, mit anfassen, das mit tragen.

Gab es für Sie einen Anstoß, sich mit dem Thema zu befassen?

Der liegt in der Kindheit. Ich wurde 1938 geboren. Unsere Großmutter, eine Frau, die das Leben sehr gebeutelt hatte – sie war Vollwaise, konnte nur wenige Jahre zur Schule gehen, erlebte zahllose Entbehrungen – brachte uns sechs Geschwister durch die Kriegsjahre. Denn unsere Mutter hatte Typhus, der Vater saß als Nazi-Gegner im Gefängnis. Die Oma hielt alles zusammen. Als sie Anfang der 1950er-Jahre starb, waren wir bei ihr. Ich war 14 und hielt sie in meinen Armen. Wir wollten ihr Danke sagen und dann sagte sie: „Die Zeit mit euch war die schönste in meinem Leben.“ Das werde ich nie vergessen.

Es bewegt Sie bis heute.

Was sie uns gewesen ist, hat mich ganz stark geprägt. Meine Frau hatte auch zwei solche Omas. Alles einfache Leute, die für andere da waren. Die ihr letztes Hemd gegeben hätten. Die Vorbilder waren, die man nicht in dicken Büchern, sondern im Leben findet. Das ist die Quelle, aus der ich lebe.

Wie schauen Sie auf Ihr bisheriges Leben?

Ich habe Glück gehabt mit meiner Biografie. Eine glückliche, erfüllende Ehe. Drei Kinder, die gut gelungen sind. Neun Enkel, die ich als riesiges Geschenk betrachte. Ich werde in einer Familie alt, die oft zusammen ist, in der sich alle nah sind, auch wenn sie über den halben Globus verteilt sind. Wir machen meist gemeinsam Urlaub. Wir haben Freunde im Haus. Und freuen uns über viele Freundschaften und Bekanntschaften mit Menschen, die ich im Laufe meiner langen Biografie kennen- und schätzen gelernt habe.

Möchten Sie mit Ihrem Erbe oder Nachlass Bleibendes schaffen?

Wir informieren Sie gern über die verschiedenen Möglichkeiten des Stiftens.

Aber Sie haben sicher nicht nur gute Menschen getroffen?

Ich habe die Gabe, mich nur an die zu erinnern, die mir gutgetan und mit denen ich es gut gehabt habe. Die anderen vergesse ich. Ich bin umgeben von liebenswürdigen Menschen.

Haben Sie eine Maxime für Ihr Leben?

„Einer trage des andern Last.“ Das ist aus dem Brief des Apostel Paulus an die Galater. Das war nicht nur unser Trauspruch, das hat mir auch in vielen schwierigen Lebenslagen Rückhalt gegeben.

Haben Sie durch Ihr besonderes Ehrenamt etwas über das Leben gelernt, das Sie vorher noch nicht wussten?

Ehrenamt hat nicht nur mit Ehre zu tun. Es ist wichtig und erfüllend, anderen beizustehen, Aufgaben zu übernehmen, die nicht nur dem notwendigen Einkommen dienen. Menschen, die so leben, gestalten bis ins hohe Alter ihre Biografien und kommen besser klar als andere, so ist meine Erfahrung. Wir leben in einer Zeit, die viel besser ist als die vorangegangene. Ich bin jeden Tag dankbar dafür, dass ich die Chance habe, teilhaben zu können.

»Die Angst vor dem Sterben scheint mir beherrschbar. Ich werde im Oktober 80 Jahre alt, ich möchte mich darauf einlassen.«

Niemand weiß, was kommt. Wir wissen nur, dass unser aller Leben endlich ist und keiner dem Sterben entweichen kann. Finden Sie das tröstlich?

Es ist eine Tatsache. Die Angst vor Gebrechlichkeit, die Angst vor dem Sterben scheint mir beherrschbar. Ich werde im Oktober 80 Jahre alt, ich bin nicht ängstlich, ich möchte es wissen, möchte mich darauf einlassen. Ich möchte auch erleben, wie die Kinder und Enkel das annehmen.

Was geht Ihnen durch den Kopf bei der Frage: Was bleibt?

Ich wünsche mir, dass die Kinder und Enkel ein Stück von mir weitertragen werden. Ich begleite sie alle innig und mit Herzblut. Ich wünsche mir, dass bei vielen Menschen Erinnerungen an mich bleiben – an Momente, an Gespräche, an Vorträge. Ich möchte gute Energie zurücklassen und gute Gedanken. Vielleicht Sätze wie: Gut, dass es ihn gegeben hat, dass er da war, dass wir gemeinsame Erfahrungen teilen konnten. Kant hat sinngemäß gesagt: Solang sich Menschen an mich erinnern, bin ich nicht tot. Das gefällt mir.

Ihr Buch hat den Untertitel „Über das Sterben reden und den Abschied leben lernen“. Wenn Sie es vorstellen, kommen stets sehr viele Zuhörer. Was erleben Sie an solchen Abenden?

Ich bin berührt. Als Politiker bin ich oft angegiftet worden. Im Politikbetrieb gibt es Konkurrenz, Gemeinheiten, Gefechte. Seit ich Rentner bin, mich mit Altersfragen befasse, erlebe ich nur positive Resonanz. Die Vorträge – es sind noch immer über 100 im Jahr – sind auch für mich eine Hilfe. Ich begegne so vielen aufregenden, anregenden Menschen. Wir reden, tauschen Erfahrungen aus, nehmen uns auch mal in den Arm. Da ist eine große Nähe. Und da ist Fröhlichkeit.

Für unser Gespräch haben Sie das Aufräumen des Bücherregals unterbrochen.

Hier stehen bestimmt 10.000 Bände. Einige haben wir gerade aussortiert, um Platz für neue Bücher zu schaffen. Andere würden wir niemals weggeben. Ich staune, wie viel Lebensgeschichte an den Büchern hängt. Ich kann anhand der Bücher in meinem Leben spazieren gehen.

Und dabei auch an die denken, die nicht mehr sind?

So ist es. Einige sind sehr gegenwärtig, das Gefühl wird immer intensiver. Es ist rätselhaft und tröstend. Das hat mit Verinnerlichung zu tun und mit Phantasie. Zu meinem Vater hatte ich ein schwieriges Verhältnis. Er starb vor 50 Jahren. Aber jetzt kommt er mir immer näher. Ich kann ihn heranholen, mit ihm reden. Das hätte ich früher für Spinnerei gehalten, aber es hat damit zu tun, dass man sich öffnet.

Sie wollten mit Ihrem Buch „Das letzte Tabu“ zur Sprache bringen. Ihr Rat?

Wir alle sollten Strukturen finden, die sowohl das Abschiednehmen als auch die Trauer umfassen. Wir sollten allem Raum geben, nichts verdrängen. Und das Ganze nicht aus der Hand geben oder an Beerdigungsinstitute delegieren. Jeder könnte sich überlegen: Was schreibe ich noch auf, was gebe ich weiter? Was soll bei der Feier gelesen oder gespielt werden? Mein Rat an Angehörige ist: Lasst euch ein auf den Abschied, besteht ihn gemeinsam. Seid euch nah.

Gastbeitrag des Online-Magazins Prinzip Apfelbaum (Ausgabe No. 3) auf der Grundlage des darin erschienenen Interviews von Birgit Kummer mit Henning Scherf. Alle Artikel und Ausgaben des Online-Magazins können Sie kostenlos lesen unter: www.das-prinzip-apfelbaum.de

Dies ist ein Gastbeitrag der “Initiative Apfelbaum – mein Erbe tut Gutes“. Die Stiftung Bildung benutzt eine gesellschaftlich bewusst reflektierte Sprache (bspw: mit*, Diskriminierungen vermeidend, Vielfalt der Gesellschaft sichtbar machen u.ä.) in all ihren eigenen Beiträgen, respektiert das Recht am eigenen Wort der*des Autor*in, veröffentlicht auf den eigenen Medien der Stiftung Bildung jedoch nur die der Compliance angepassten Texte.

Fotos: Julian Hanslmaier/unsplash, Justin Schüler/unsplash, Danie Franco/unsplash, Carlos Quintero/unsplash

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