von Birgit Kummer
Der Herbst bringt die stillen Tage: Allerheiligen, Volkstrauertag, Buß- und Bettag, Totensonntag. Der evangelische Theologe und Bürgerrechtler Friedrich Schorlemmer geht dann auf den Friedhof, um den Verstorbenen nahe zu sein. Denn Trauer – das ist für ihn mehr als nur ein Schmerz.
Friedrich Schorlemmer wurde weltweit bekannt, als er 1983 in Wittenberg in einer symbolischen Aktion ein Schwert zu einem Pflugschar umschmieden ließ. Seit den 1970er Jahren war der evangelische Theologe und Pfarrer in der Friedens- und Menschenrechtsbewegung der DDR aktiv. Aufgewachsen in der Kleinstadt Werben in Sachsen-Anhalt wurde ihm als Sohn eines Pfarrers der Besuch der Erweiterten Oberschule verwehrt. Das Abitur musste er an einer Volkshochschule nachholen. Schorlemmer war nicht nur ein prominenter Redner auf der Großdemonstration auf dem Berliner Alexanderplatz am 4. November 1989. Er gehörte auch zu den Erstunterzeichnern des Aufrufs „Für unser Land“, der dafür warb, die DDR als sozialistische Alternative zur Bundesrepublik zu erhalten. 1993 erhielt Friedrich Schorlemmer den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Bis heute setzt sich der 74-Jährige für Frieden und soziale Gerechtigkeit ein.
Haben die stillen Tage wie Allerheiligen oder Totensonntag für Sie eine Bedeutung?
Das haben sie – seit ich denken kann. Ich gehe auf den Friedhof, um denen nahe zu sein, die nicht mehr unter uns sind. Meinem Bruder Hans-Christoph zum Beispiel, der 1957 im Alter von sieben Jahren an Kinderlähmung gestorben ist. Ich frage mich oft, mit welchem Recht ich noch da bin und er nicht. Wir waren sieben Geschwister, seit seinem Tod sind wir nur noch sechs, aber der verlorene Bruder spielt bei uns allen eine große Rolle. Die Rätselhaftigkeit des plötzlichen Verlustes hinterfragen wir bis heute. Die Begründung, die wir damals bekamen: „Er ist im Himmel“, hat uns nicht gereicht: Im Himmel ist doch Gott, warum hat er nicht eingegriffen?
Also ist der Friedhof für Sie kein ferner Ort, sondern ein Raum für das Nachdenken und die Begegnung?
Er ist ein Ort, um zu bestimmten Menschen zu gehen. Auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin zum Beispiel sind viele, die ich kannte und mit denen ich bis heute verbunden bin. Der lateinische Sinnspruch Memento mori, „Gedenke des Todes“, bezieht sich auf die Kunst, mit dem Tod umzugehen, im Angesicht des Todes zu leben. Und dabei dankbar, demütig und wahrhaftig zu sein. Darauf sollte sich jeder einlassen, das sollte man annehmen.
Wie stellt man das an?
Man sollte sich die Zeit dafür nehmen, das Nachdenken zulassen. Und dabei nicht nur bei sich selber sein, sondern auch bei denen, die schwere seelische Verwundungen mit sich tragen. Das heißt auch, in die Stille zu gehen und sie mit anderen zu teilen. Menschen, die am Totensonntag auf den Friedhof gehen, sind anders als die, die durch die Stadt spazieren.
Gibt es eine Musik für Sie, die dieses Gefühl ausdrückt?
„Actus tragicus“, Bachs Trauer-Kantate zum Totensonntag, mit dem Text des Kirchenlieddichters Michael Franck über die Vergänglichkeit des menschlichen Lebens. „Ach wie flüchtig, ach wie nichtig ist der Menschen Leben! Wie ein Nebel bald entstehet und auch wieder bald vergehet, so ist unser Leben, sehet!“ Das Lied hat dreizehn Strophen und ich kenne jede Zeile.
Was tun, wenn man Trauernden begegnet?
Anteil nehmen. Sich kümmern. Die Witwe eines Freundes sagte neulich zu mir: Es wäre mal wieder ein Besuch dran. Da weiß ich, das kann ich nicht verschieben, das nehme ich jetzt wahr. Ich werde eine Schallplatte mitnehmen: „Vier ernste Gesänge“ von Brahms, die Texte aus der Bibel über das vergehende Leben und den Tod thematisieren. Ergreifend und unglaublich weise. Wir werden Musik hören, reden und miteinander schweigen.
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Was bewegt Sie bei dem Wort Trauer?
Trauer gehört zu den ganz tiefen Gefühlen des Lebens. Man darf sie nicht abtöten oder abschneiden, sie kann sehr tröstlich sein. Nicht zu trauern, das kann furchtbar sein. Wo ich trauere, ist der noch da, um den es mir geht. Ich weiß, es gibt Menschen, die nicht aus der Trauer herauskommen, die sie nicht verwinden können, für die das zum Normalzustand wird. Es gibt aber auch Menschen, die in der Trauer Mut zum Weiterleben fassen. Sie trauern nicht ununterbrochen, nicht jeden Tag. Aber sie geben der Trauer ihren Raum, sie nutzen die Chance, durch Trauer dem anderen nahe zu sein. Trauer ist ganz Vieles, sie ist Schmerz, Liebe, hilfreiche Vergangenheitsbewältigung, Verlusterfahrung, bleibende Beziehungserfahrung. Sie hält am Leben und sie erlaubt den Trauernden durchaus, zu leben und zu lachen. Aber sie erlaubt auch, zu jammern.
»Trauer ist Schmerz, Liebe, Vergangenheitsbewältigung, Verlusterfahrung. Sie erlaubt, zu leben und zu lachen, aber auch zu jammern.«
Wenn Sie als Pfarrer, als Seelsorger angesprochen werden …
… dann schlage ich oft vor, einen Psalm zu lesen. In Psalm 90 steht: „Lehre uns bedenken, daß wir sterben müssen, auf daß wir klug werden.“ Auch Psalm 39 thematisiert die Endlichkeit des Lebens: „Lehre mich doch, daß mein Leben ein Ziel hat und ich davon muß.“ Ich habe diese Texte in mir, sie sind klug und tröstlich und man kann es einfach nicht besser ausdrücken als in diesen Psalmen.
„Auf daß wir klug werden“ rät dazu, die Lebenszeit zu nutzen?
Das Bedenken des Todes führt im besten Fall dazu, in die Tiefe zu schauen, zur Vertiefung dessen zu kommen, was Leben ist. Was bin ich für mich? Was bin ich für dich? Was bist du für mich? Wenn ich mir mit meinen 74 Jahren klar mache, wie viele aus meinem Umfeld schon gegangen sind, wie viele Abschiede wir schon bestehen mussten, macht mir das die Endlichkeit klar, aber auch das unverschämte Glück, noch am Leben zu sein.
Wo finden Sie selbst Trost?
Bei Freunden und Freundinnen, in Gesprächen, Telefonaten. Die brauchen keinen festen zeitlichen Rahmen, keine Verabredung. Die Nähe ist sofort da und auch die Gewissheit: Schön, dass wir uns haben. Gut, dass du da bist. Memento mori, wir wissen, dass es endlich ist. Neben den Menschen sind es Texte und Musik, die mir Trost geben.
Ein Beispiel?
„Wenn die Propheten einbrächen durch Türen der Nacht und ein Ohr wie eine Heimat suchten – Ohr der Menschheit, du nesselverwachsenes, würdest du hören?“ Das hat die den Nazischergen entronnene Nelly Sachs geschrieben und es geht mir durch den Kopf – am 9. November jährt sich die Reichspogromnacht zum achtzigsten Mal. Oder das Deutsche Requiem von Johannes Brahms, das mich tief im Innersten berührt, ob ich es nun in einer Kirche oder im Konzertsaal höre. Bei meinem längst erwachsenen Sohn, der Schlagzeug in einer Band spielt, bin ich viele Jahre mit meinen Klassik-Ermunterungen gescheitert. Bis er eher zufällig Mozarts Requiem hörte und es ihn umgehauen hat.
Wie findet man einen Neuanfang im Leben, wenn ein wichtiger Mensch nicht mehr da ist?
Das hängt sehr von der innerlichen Verpackung des jeweiligen Menschen ab. Ein Beispiel war mir immer die Journalistin und „Zeit“-Herausgeberin Marion Gräfin Dönhoff in ihrer Trauer über ein verlorenes Land, Ostpreußen. In ihrem Annehmen eines neuen Lebens und dem Bemühen, ihre Begabungen und Talente am Leben zu halten und weiter auszuprägen. In ihrer Treue bis über den Tod hinaus zu dem Menschen, den sie sehr geliebt hat und der an der Ostfront erschossen wurde.
»Nicht zuletzt in der Trauer wurde mir klar, was wir einander bedeutet haben. Die innere Beziehung zu denen, die wir verloren haben, bleibt.«
Sie haben bei Trauerfeiern für bekannte Verstorbene wie Christa Wolf oder Egon Bahr geredet. Macht das den persönlichen Abschied leichter?
Nein. Aber es hilft allen, wenn man eine gute Form findet. Bei Christa Wolf waren wir mehrere, die gesprochen haben, auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof und später in der Akademie der Künste. Daniela Dahn, Christoph Hein, wir alle konnten unsere Beziehung zu ihr ansprechen, sie war ganz gegenwärtig, sie war bei uns.
Und trotzdem schmerzt jeder Abschied.
Ja, und man vermisst den Menschen, der gegangen ist, schmerzlich. Ich denke an meine Freunde Reinhard Höppner. Walther Stützle. Oder Horst Eberhard Richter. Er war Publizist, Philosoph, Psychoanalytiker – ein wunderbarer Erklärer dessen, was zwischen Menschen abläuft, ein Zweifelnder und ein zutiefst Hoffender. Vor sieben Jahren ist er gestorben, der Abschied war schwer, er fehlt mir. Aber ich brauche nur eins seiner Bücher aufzuschlagen und höre seine Stimme.
Oder mein Freund und Vorbild Lew Kopelew. Dass mein Vater sterben musste, das war mir klar, darauf hatte ich mich eingestellt. Dass auch jemand wie Lew würde gehen müssen, das hatte ich mir innerlich nicht klargemacht. Nicht zuletzt in der Trauer um ihn wurde mir klar, was wir einander bedeutet haben. Ich kann ihm bis heute sehr viel sagen, auch wenn ich keine Antwort bekomme. Die innere Beziehung zu denen, die wir verloren haben, bleibt.
Gastbeitrag des Online-Magazins Prinzip Apfelbaum (Ausgabe No. 6) auf der Grundlage des darin erschienenen Gesprächs von Birgit Kummer mit Friedrich Schorlemer. Alle Artikel und Ausgaben des Online-Magazins können Sie kostenlos lesen unter: www.das-prinzip-apfelbaum.de
Dies ist ein Gastbeitrag der “Initiative Apfelbaum – mein Erbe tut Gutes“. Die Stiftung Bildung benutzt eine gesellschaftlich bewusst reflektierte Sprache (bspw: mit*, Diskriminierungen vermeidend, Vielfalt der Gesellschaft sichtbar machen u.ä.) in all ihren eigenen Beiträgen, respektiert das Recht am eigenen Wort der*des Autor*in, veröffentlicht auf den eigenen Medien der Stiftung Bildung jedoch nur die der Compliance angepassten Texte.