von Wibke Bergemann
Der Zweite Weltkrieg bildet in der Erinnerung vieler Familien eine Lücke. Was damals geschah und wie die eigene Familie in nationalsozialistische Verbrechen verstrickt war, darüber herrscht Schweigen. Doch unter den traumatischen Erlebnissen ihrer Eltern leidet auch die nächste Generation. Viele Kriegsenkelkinder machen sich auf Spurensuche. Der Blick zurück ist schmerzhaft, aber heilsam.
Sie haben im Luftschutzkeller gesessen und spürten lähmende Angst, vielleicht noch zu klein, um zu verstehen, was um sie herum geschah. Sie erlebten Hunger und Kälte, Flucht und Tod. Nicht selten waren sie dabei sich selbst überlassen – die Väter an der Front oder in Gefangenschaft, die Mütter überfordert.
Es sind extreme Erfahrungen, die Kinder während des Zweiten Weltkriegs und in der Nachkriegszeit gemacht haben. Dennoch sollte es Jahrzehnte dauern, bis diese Generation begann, über ihre Erfahrungen zu sprechen. Nach dem Krieg ging es in Deutschland zunächst um die Täter und um Schuld, nicht um Opfer. Man funktionierte, das Land musste wieder aufgebaut werden. Nach den seelischen Folgen der Kriegserlebnisse wurde nicht gefragt.
Das änderte sich erst um das Jahr 2000, als die Generation der Kriegskinder in den Ruhestand kam. Viele erkannten, dass die Kriegserlebnisse sie bis heute beschäftigen. Und nicht nur sie. Auch für die nachfolgende Generation öffnete sich plötzlich der Blick. Die Gefühlskälte der Mutter und die Wutanfälle des Vaters – die eigene Kindheit stand offenbar in einem größeren Zusammenhang.
Ängste, Blockaden, Selbstzweifel
Denn so unterschiedlich die Lebensgeschichten der Kriegsenkel auch sind, so wiederholen sich doch bestimmte Muster. Die Kinder der Kriegskinder erlebten Eltern, denen sie es nie recht machen konnten, die alle Gefühle unterdrückten, die vor allem große Lebensangst und ein enormes Sicherheitsbedürfnis hatten. Während und nach dem Krieg waren sie in den meisten Fällen mit ihren seelischen Verletzungen allein gelassen worden und hatten gelernt, ihre Gefühle unter Verschluss zu halten. Ihren eigenen Kindern blieben sie dadurch unnahbar und fremd.
Inzwischen weiß man, welche Folgen die Last der Kriegskinder für ihre Kinder hatte und noch immer hat. Viele erleben unerklärliche Ängste und Blockaden. Ihnen gelingt es nicht, anzukommen: Immer wieder wechseln sie den Arbeitsplatz, ihre Beziehungen brechen schnell wieder auseinander. Zudem kämpfen viele Kriegsenkel mit Selbstzweifeln und fühlen sich wertlos. Als wären sie es nicht wert, beruflich erfolgreich zu sein und eine gute Beziehung zu haben.
»Kinder der Kriegskinder erlebten Eltern, die eine große Lebensangst und ein enormes Sicherheitsbedürfnis hatten. «
Kriegsenkelkinder übernahmen die Rolle ihrer Eltern
Eine Ursache sehen Psychologen in der so genannten „Parentifizierung“: Viele Kriegsenkelkinder waren von klein auf darum bemüht, für ihre verletzten Eltern da zu sein. Eine Verdrehung der Rollen, die jedes Kind überfordert. Sie übernahmen Aufgaben, die ihre schwachen Eltern nicht leisten konnten. Sie fühlten sich verantwortlich, wenn es der Mutter oder dem Vater schlecht ging, und das bis heute. Zugleich erlebten sie immer wieder Zurückweisung und unberechenbare Wut, deren Ursachen weit zurückliegen und mit ihnen selbst wenig zu tun haben.
Doch immer mehr Kriegsenkelkinder stellen ihre scheinbar ganz normalen Familiengeschichten in Frage. In vielen Städten sind Vereine und Gruppen entstanden, eine Reihe von Kriegsenkelkindern haben ihre Erfahrungen aufgeschrieben und veröffentlicht. Joachim Süss, Vorstandsmitglied von Kriegsenkel e.V. spricht von „Nebelkindern“, die mit den Schatten einer Vergangenheit aufwachsen, die ihnen verborgen bleibt und doch ihr Leben beeinflusst.
»Sie wachsen mit den Schatten einer Vergangenheit auf, die ihnen verborgen bleibt und doch ihr Leben beeinflusst.«
Unterschiedliche Erfahrungen
Süss hat die Sammlung „Nebelkinder“ mitherausgegeben. Die Berichte von Kriegsenkelkindern über ihre persönliche Suche im Nebel der Vergangenheit zeigen, wie unterschiedlich die Erfahrungen sind und wie schwierig es ist, überhaupt von einer „Generation“ zu sprechen. Und genauso wie nicht jedes Kriegskind traumatisiert ist, lastet das Erbe der Kriegskinder auch nicht gleichermaßen auf jedem Kriegsenkelkind. Selbst unter Geschwistern gibt es große Unterschiede. „Familiendynamisch betrachtet entpuppte ich mich als diejenige, deren Seele mit diesem Versteckspiel überfrachtet war“, schreibt etwa Antje Pohl, deren Großvater Robert Mulka Hauptangeklagter im ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess war.
Die Publizistin Alexandra Senfft berichtet, wie sie in ihrer Familie beschimpft und diskreditiert wurde, als sie ihr Buch „Schweigen tut weh. Eine deutsche Familiengeschichte“ veröffentlichte. Wieso ein Buch? Man hätte das Thema besser innerhalb der Familie diskutieren können, so der Vorwurf. Doch das Gespräch hinter verschlossenen Türen führe schnell in eine Sackgasse, meint Senfft. Und verhindere einen nachhaltigen gesellschaftlichen Diskurs.
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Das eigene Leben besser verstehen
Auch der Journalist Matthias Lohre wundert sich: Die Zeit des Nationalsozialismus ist gründlich erforscht und im Geschichtsunterricht kommt kein Schüler daran vorbei. Doch nach den Erlebnissen und Verstrickungen der eigenen Familie zu fragen, wagen die wenigsten. Zu groß ist offenbar noch immer die Angst vor den möglichen Antworten. Mit seinem Buch „Das Erbe der Kriegsenkel“ will Lohre dazu ermuntern, auf Nachforschungen in der eigenen Familie zu gehen.
Wie viele andere hat auch Lohre lange damit gehadert, sich selbst als Kriegsenkel zu sehen. In einer Ecke seines Zimmers stapelten sich bereits Bücher und Zeitungsausschnitte zu dem Thema, doch der Journalist war überzeugt: „Mit mir hat das nichts zu tun.“ In seiner Familie habe es Starre und Schweigen gegeben, aber keine großen Dramen. Seine Eltern hätten weder Flucht noch Flächenbombardements erlebt. Sich selbst als Kriegsenkel zu bezeichnen, kam dem Journalisten anmaßend vor, als wolle er sich „einen Opferstatus zusammenklauben“.
Doch als sein Vater stirbt, kommen Fragen in ihm hoch. Wer war dieser Mann eigentlich? Woher kommt die Fremdheit gegenüber den Eltern? Warum leidet er, der erfolgreiche Journalist, ständig unter Versagensängsten und Schuldgefühlen? Nie ist es genug, immer glaubt er, noch mehr leisten zu müssen. Und wieso gelingt es ihm nicht, endlich irgendwo anzukommen?
Der Mut zum Fragen wird belohnt
Lohre macht sich auf in sein Heimatdorf. Er spricht mit älteren Dorfbewohnern und den letzten Tanten und Onkeln, die noch leben und ihm etwas über die Kindheit seiner Eltern erzählen können. Es fällt ihm nicht leicht. Als Kriegsenkel hat er früh gelernt, keine Fragen zum Krieg zu stellen. Doch zu seiner Überraschung stellt er fest: Die in die Jahre gekommenen Kriegskinder wollen erzählen – man muss sie nur fragen.
Welche Schrecken haben die Eltern mit sich herum getragen? – Die Frage führt Lohre nicht nur zu Krieg und Flucht, sondern auch zu nationalsozialistischer Ideologie und autoritären Erziehungsidealen. Wurde seine Mutter schon als Säugling sich selbst überlassen und ohne stabile Beziehung aufgezogen, wie es das Buch „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ von 1934 empfiehlt? Befolgte ihre Mutter den verheerenden Erziehungsratgeber der österreichischen Ärztin Johanna Haarer, die davor warnte, das schreiende Kind außerhalb geregelter Zeiten aufzunehmen und zu trösten? Bis zum Kriegsende wurden 690.000 Exemplare verkauft.
Lohre kommt zu dem Schluss, dass der Blick zurück schmerzhaft ist, aber auch heilsam. Verstehen heißt nicht verzeihen. Seine Eltern haben Lebensangst und Wut in seine Kinderseele gepflanzt, wie er schreibt. Aber mit Genugtuung stellt er fest, dass es ihm gelungen ist, nicht so zu werden wie sie: „Es wird Zeit, dieses Erbe auszuschlagen.“
Das schwere Erbe annehmen und nutzen
Eine andere Möglichkeit ist es, das Erbe anzunehmen und darin nach Schätzen zu suchen. Die systemische Berliner Therapeutin Ingrid Meyer-Legrand glaubt, dass die Kriegsenkel gerade aus ihrer besonderen Situation heraus bestimmte Kompetenzen entwickelt haben. So habe diese Generation als Reaktion auf das Schweigen der Eltern ein großes Bedürfnis nach Auseinandersetzung und Reflexion entwickelt. Die lebenslange Suche nach einer anderen Arbeit, einer anderen Form von Beziehung, die für die Kriegsenkel so typisch ist, werde vielfach als ein „Immer noch auf der Flucht sein“ missverstanden. Dabei gehe es vor allem um Selbstverwirklichung. Auch die Alternativbewegungen der 70er und 80er Jahre, die nach neuen Lebensformen suchten, waren möglicherweise eine Reaktion auf das Aufwachsen mit traumatisierten Eltern. „Für die Kriegsenkel haben nicht-materielle Werte Vorrang vor denen einer Leistungsgesellschaft“, meint Meyer-Legrand.
»Diese Generation entzieht sich dem gesellschaftlichen Druck und strebt nach starker persönlicher Autonomie.«
Typisch für diese Generation seien daher „Zickzack-Biografien“. Kriegsenkel hielten immer wieder inne und schmissen sogar einen gut bezahlten Job hin, um sich zu fragen, was sie eigentlich wirklich wollen, wo ihr Platz ist. Es sei zu kurzgefasst, darin nur einen Makel zu sehen. Meyer-Legrand sieht darin vielmehr eine besondere Stärke. Diese Generation entzieht sich dem gesellschaftlichen Druck und strebt nach starker persönlicher Autonomie. Die scheinbar verzweifelte Getriebenheit im Lebensweg entpuppt sich beim näheren Hinsehen als durchaus konsistent und sinnvoll.
Es lohnt sich, die persönliche Familiengeschichte zu erforschen, meint auch Meyer-Legrand. Sie empfiehlt, auch die „anderen“ Geschichten zu suchen, nämlich die, die von der dominanten, in der Familie vorherrschenden Erzählung abweichen. Denn so lassen sich neue Vorbilder und so manche Leistung entdecken, auf die man stolz sein kann. Die Geschichte der eigenen Familie ist niemals nur eine Last, meint die Therapeutin, sondern immer auch „eine reiche Quelle“.
Gastbeitrag des Online-Magazins Prinzip Apfelbaum (Ausgabe No. 8) auf der Grundlage des darin erschienenen Beitrags von Wibke Bergemann. Alle Artikel und Ausgaben des Online-Magazins können Sie kostenlos lesen unter: www.das-prinzip-apfelbaum.de
Dies ist ein Gastbeitrag der “Initiative Apfelbaum – mein Erbe tut Gutes“. Die Stiftung Bildung benutzt eine gesellschaftlich bewusst reflektierte Sprache (bspw: mit*, Diskriminierungen vermeidend, Vielfalt der Gesellschaft sichtbar machen u.ä.) in all ihren eigenen Beiträgen, respektiert das Recht am eigenen Wort der*des Autor*in, veröffentlicht auf den eigenen Medien der Stiftung Bildung jedoch nur die der Compliance angepassten Texte.