Bilderbücher für blinde Kinder und Tanzunterricht für gehörlose Jugendliche – geht das? Ein Gespräch mit Anke Dübler, Dodzi Dougban und Anja Kuypers über kreative inklusive Projekte in Kita und Schule
Eine barrierefreie Veranstaltung – gar nicht so einfach! Für das Chancenpatenschaften-Team der Stiftung Bildung war es eine Premiere: das Online-Gespräch “Kreative inklusive Projekte für Kita und Schule” am 23. März 2022 war die erste Veranstaltung mit einem gehörlosen und einem blinden Gast. Das Gespräch wurde live in Gebärdensprache gedolmetscht.
Für uns Sehende und Hörende war im Vorfeld der enge Austausch mit unseren Gästen, dem gehörlosen Tänzer Dodzi Dougban und der blinden Sozialpädagogin Anke Dübler, sehr wichtig. So konnten wir herausfinden, was für Barrieren es für Blinde oder Gehörlose geben könnte.
So mussten wir beispielsweise sicherstellen, dass die beiden Gebärdensprachdolmetscherinnen im Zoom-Gespräch jederzeit sichtbar waren, auch bei Bildschirmteilung. Wir entschieden uns, auf eine Präsentation zu verzichten, nachdem klar wurde, dass wir alle visuellen Elemente für blinde Menschen hätten beschreiben müssen. Letztlich führte das Nachdenken über Barrierefreiheit dazu, Unnötiges wegzulassen und sich auf das Wesentliche zu konzentrieren.
Eine Geschichte für alle – auch in Gebärdensprache
Die Veranstaltung war gleichzeitig eine weitere Premiere: der Launch unseres neuen Video-Pixis “Ich. Du. Wir. Unser Garten für alle” zu unserem Förderprogramm Chancenpatenschaften. Gemeinsam mit dem Carlsen Verlag hatten wir in monatelanger Vorbereitung ein eigenes Pixi-Buch auf den Weg gebracht. Pauline Ackermann schrieb die Geschichte, illustriert wurde sie von Dorothea Tust, die auch für “Die Sendung mit der Maus” zeichnet.
Für die Stiftung Bildung war es besonders wichtig, dass die Kinder in der Geschichte divers dargestellt sind. Im Interview verrät Shari Neumann warum ihr Diversität im Kinderbuch besonders am Herzen liegt: “Ich wollte, dass sich jedes Kind in einem Charakter wiederfinden und das Buch in den Händen halten kann mit den Worten: “Guck‘ mal der*die sieht aus wie ich!”
Vielfalt im Kinderbuch ermöglicht Identifikation
In unserer Geschichte „Ich. du. Wir. Unser Garten für alle“ gibt es zwei Kinder – Linda und Luan -, die sich in Gebärdensprache unterhalten. Damit Kinder wie Linda und Luan an der Geschichte teilhaben können, haben wir das Video-Pixi auch in einer Version mit Gebärdensprache veröffentlicht.
Auch wir lernen jedoch in Sachen Barrierefreiheit noch dazu: Anke Dübler machte uns bereits im Vorfeld zu unserer Veranstaltung darauf aufmerksam, dass es eine Audiodeskription der visuellen Inhalte braucht, damit blinde Menschen die Geschichte von den Kindern, die gemeinsam einen Garten gestalten, wie Sehende erfassen können. Doch zu diesem Zeitpunkt war das Video-Pixi bereits fertig produziert und die Sprechpausen reichten nicht für eine sinnvolle Bildbeschreibung. Wir sind jedoch dankbar für solche Hinweise und werden die Barrierefreiheit beim nächsten Mal noch umfassender mitdenken.
Inklusion bedeutet, dass alle teilnehmen können
Dodzi Dougban ist Hip-Hop-Europameister und künstlerischer Leiter des Kreativzentrums Vest in Nordrhein-Westfalen. Er gibt Tanzkurse für Kinder und Erwachsene mit und ohne Behinderung. In unserem Online-Gespräch gebärdet Dougban und die Dolmetscherin übersetzt. Seiner Meinung nach braucht es nicht unbedingt Sprache, um miteinander zu kommunizieren. Die Verständigung findet in seinen Kursen über den Körper statt. Erfolgreiche Methoden für seine künstlerische Arbeit mit körperlich und geistig behinderten Menschen sind Wiederholungen, antwortet Dougban auf eine Frage aus dem Publikum. Hilfreich sei auch, nicht auf einem festen Curriculum zu bestehen, einfache Sprache zu verwenden und vor allem: sich Zeit für die Menschen zu nehmen.
Für seine inklusive Arbeit nutzt Dougban die Erkenntnisse aus dem bi-nationalen Projekt Creability, das sich mit der Frage befasst, wie Kreativmethoden so umzugestalten sind, dass sie für alle Menschen praktisch zugänglich und anwendbar sind. Die Ergebnisse wurden in dem Handbuch “Kreative und künstlerische Tools für die inklusive Kulturarbeit” veröffentlicht, das kostenlos im Netz heruntergeladen werden kann.
Für Dougban bedeutet Inklusion vor allem Barrierefreiheit, sodass alle teilnehmen können. Für Gehörlose wie ihn wäre Barrierefreiheit beispielsweise der Zugang zu Gebärdensprachdolmetscher*innen, erklärt Dougban. Darüber hinaus wäre es natürlich toll, wenn jedes Kind ein paar Gebärden könnte. Wir hatten Dodzi Dougban daher darum gebeten, zu unserem Pixi ein kurzes Video-Tutorial “Wir lernen Gebärdensprache” zu erstellen. Damit können bereits Kita- und Grundschulkinderauf spielerische Weise ein paar Gebärden kennenlernen, um sich mit gehörlosen Kindern wie Luan oder Linda zu verständigen.
Inklusive Bilder- und Kinderbücher schärfen die Wahrnehmung
Anja Kuypers ist ausgebildete Lese- und Literaturpädagogin sowie Fachkraft für frühkindliche Sprachentwicklung und Sprachförderung und DaZ-Lehrkraft an einer inklusiven Grundschule. In ihrem Projekt „Punktgenaues Lesen“ arbeitet Kuypers mit Kindern zum Thema Blindheit und beantwortet die Frage: Nichts sehen können, aber lesen – Wie geht das?
Das funktioniert beispielsweise mit Tastbüchern. Damit werden Geschichten haptisch begreifbar. “Für blinde und sehbehinderte Kinder sind fühlbare Bücher ein wichtiger Einstieg in die Leseentwicklung”, erzählt Anja Kuypers. Die Kinder „lesen“ die Materialien und machen durch die Braille-Punktschrift erste Schritte in Richtung Lesekompetenz. “Inklusive Bilder- und Kinderbücher gibt es jedoch nur sehr wenige, da sie sehr aufwendig und kostspielig in der Herstellung sind”, so Kypers.
Für die Stiftung Bildung hat Anja Kuypers daher einen Leitfaden zur Erstellung eines Fühlbuchs erstellt. Selber machen zusammen mit Vorschul- oder Grundschulkindern ist gar nicht so schwer. Auch für sehende Kinder ist die Herstellung eines Fühlbuches eine spannende Erfahrung. Mit verbundenen Augen können Jungen und Mädchen unterschiedliche Materialien wie beispielsweise Holz, Wolle oder Stoff und kleine Gegenstände wie Muscheln, Knöpfe, Spielzeugfiguren usw. ertasten. Ideal sind möglichst verschiedene Materialien, die sich am Alltag der Kinder orientieren.
Für die Umsetzung unserer Pixi-Geschichte als Tastbuch hat Anja Kuypers auch gleiche einige Ideen: Für den Garten könnte man mit den Kindern Blumen aus Papier basteln. Ein kleiner Spaten aus dem Spielwarenhandel könnte zum Bespielen und Herausnehmen im Buch befestigt werden. Und hinter dem Kaninchengehege aus echtem Kaninchendraht zum Wegklappen befindet sich ein mit Fell dargestellter Hase. Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt!
Um die Geschichten auch in Braille lesbar zu machen, empfiehlt Anja Kuypers die Kontaktaufnahme zu Blindenverbänden oder ein Gespräch mit einer Blindenschule. Das Deutsche Zentrum für barrierefreies Lesen aus Leipzig betreibt zudem eine sehr umfangreiche Literatursammlung in Braille.
Chancenpatenschaften machen Kinder offen für das vermeintlich Andersartige
Anke Dübler ist Dipl.-Sozialpädagogin und hat eine Ausbildung zur Trainerin für gewaltfreie Konfliktbearbeitung und transkulturelles Lernen absolviert. Mit ihrer Arbeit möchte sie einen Beitrag dazu leisten, dass Inklusion selbstverständlich wird. 2013 ist sie erblindet und findet sie sich in einer Gesellschaft wieder, die separiert und aussortiert. Anke Dübler bietet Inklusionsprojekte an, die Menschen zusammenbringen. Sie initiiert Chancenpatenschaften, die alle Sinne schärfen und Kinder offen machen für das vermeintlich Andersartige. Für ihre Arbeit mit Kindern nutzt sie gern ihre blinde Handpuppe Willie.
Im Rahmen der Chancenpatenschaften lässt Anke Dübler die Teilnehmenden der AG „Vielfalt“ in der Freien Schule Altmark ausprobieren, wie es sich anfühlt, wenn der Sehsinn nicht benutzt werden kann. Im Bewegungsraum der Schule wurde dazu ein Parcours aufgebaut. Ein sehendes Kind führte immer ein „blindes“ Kind. Am Ende berichteten die Kinder von Unsicherheiten und einige auch davon, wie spannend es ist, die Welt zu erobern, ohne die Augen zu benutzen. “Zugang für alle muss das neue Normal sein”, fordert Anke Dübler. Chancenpatenschaften können hier ein erster Schritt sein, um kreative inklusive Projekte in Kita und Schule anzustoßen, Ängste und Vorurteile abzubauen und für die Bedürfnisse anderer Menschen zu sensibilisieren.
Machen auch Sie mit bei den Chancenpatenschaften!
Seit 2016 hat die Stiftung Bildung bundesweit mehr als 15.000 Tandems an über 600 Kitas und Schulen bundesweit initiiert. Mit dem Programm Chancenpatenschaften bringen wir Kinder und Jugendliche mit unterschiedlichen Teilhabechancen zusammen. . Die Chancenpatenschaften werden gefördert vom Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) im Rahmen des Bundesprogramms „Menschen stärken Menschen“.
Gleichaltrige lernen auf Augenhöhe mit- und voneinander und erleben über kreative Projekte Selbstbewusstsein und Selbstwirksamkeit. Im Rahmen der Chancenpatenschaften können Enagierte, Bildungsstandorte und Fördervereine ihre Ideen für eine chancengerechte Bildung und Teilhabe umsetzen. Dabei sind die unterschiedlichsten Projektformate denkbar: Wir möchten Projekte Realität werden lassen, die genau dort ansetzen, wo die Bedarfe der Kinder und Jugendlichen vor Ort liegen
Sie haben auch eine Projektidee? Gern beraten und unterstützen wir Sie bei der Antragstellung! Hier finden Sie weitere Informationen zum Förderprogramm sowie Ihre Ansprechpartner*in.