von Birgit Kummer
Einen Haushalt aufzulösen, ist mehr als nur eine Sperrmüllaktion. Die Dinge des Alltags, die Lieblingssachen der Verstorbenen, die Fotos und Briefe, auf die man beim Aufräumen stößt: All das weckt Erinnerungen, auch Überraschungen sind möglich. Ein Nachlass ist immer eine Reise in die Vergangenheit – in die der Verstorbenen und oft genug auch in die eigene.
Der alte Kaffeebecher ihrer Nachbarin ist vor acht Jahren in Annes Küche gekommen. Er entspricht weder ihrem Geschmack noch passt er zu den anderen Tassen. Aber sie benutzt ihn fast jeden Tag. Er ist eine der Erinnerungen an die alte Dame von nebenan, die selbst keine Kinder hatte und im Testament schließlich Anne damit betraute, die Wohnung aufzulösen.
Etwa 950.000 Menschen versterben pro Jahr in Deutschland. Sie hinterlassen jede Menge Gegenstände, Dokumente, Fotos und Erinnerungsstücke, die ihnen etwas bedeutet haben. Die Angehörigen, die meist von Trauer, Verzweiflung, Kummer erfüllt sind und zudem viel Bürokratie zu bewältigen haben, stehen vor einer schwierigen Aufgabe. Sie müssen sichten, sortieren, auflösen, sie müssen entscheiden, was bleibt und was geht.
Kriegstagebücher für den Geschichtsunterricht
„Wohl dem, der sich dafür Zeit nehmen kann“, sagt Anne. Die 62-Jährige hatte Glück, dass der Vermieter der Nachbarin ihr diese Zeit zugestand. Es waren drei Monate, in denen sie in ihrer freien Zeit mit Freunden die Wohnung leerte. „Ich ging einmal durch ihr Leben und durch das ihres früh verstorbenen Mannes, der wie sie Lehrer gewesen war.“ Möbel wurden verschenkt oder kamen in den Sperrmüll. In den Bücherbergen, die sich im Wohnzimmer auftürmten, wurde so mancher Bekannter fündig. Stoffe, Wolle und Unmengen Knöpfe gingen an die städtische Jugendkunstschule, Kleidungsstücke und Taschen an ein Jugendtheater. Ebenso die Pelzjacken, für die ein Kürschner nur ein müdes Schulterzucken übrig gehabt hatte, obwohl Anne sie ihm schenken wollte. „Für die alte Dame hatten die Pelze einen immensen Wert, doch heute interessieren sie niemanden mehr“, stellte Anne fest. Dokumente zu Schulabschlüssen, Arbeitsstellen, auch das Kriegstagebuch konnte sie nicht wegwerfen. „Das liegt seither in Kisten in der Garage.“ Kürzlich bat ein Schulleiter, der selbst bei dem alten Lehrer die Schulbank gedrückt hatte, um eine der Kisten. Mit Hilfe all der Dokumente sollen Gymnasiasten eine Seminarfacharbeit schreiben.
So unterschiedlich das Verhältnis der Hinterbliebenen zu den Verstorbenen war, so unterschiedlich ist auch ihr Umgang mit dem Nachlass. Denn was sie aussortieren und was sie bewahren, ist ausgesprochen subjektiv und folgt oft weder der Logik noch der Praktikabilität. Wichtiger sind die Familiengeschichten, Anekdoten und Erinnerungen, die fröhlichen und die traurigen Momenten, die mit den Gegenständen verbunden sind.
Spurensuche in der Familiengeschichte
Ein berührendes Buch dazu hat die ZEIT-Journalistin Susanne Mayer verfasst: „Die Dinge unseres Lebens. Und was sie über uns erzählen“. Sie räumte das Haus der Eltern leer und spürte einen ganzen Sommer lang der Geschichte ihrer Familie nach, „als wäre ich ein Gast, zu Besuch in einer Vergangenheit, die ja auch meine war, unser aller Vergangenheit.“ Neugierig, hilflos und manchmal auch wütend sei sie gewesen. „In den Dingen verdichten sich Geschichten. Sie blühen auf, wenn man die Gegenstände in die Hand nimmt. Wenn man sie nur lässt, umgarnen sie uns mit Erinnerungen, sie ziehen uns zurück in eine Vergangenheit, von der wir glaubten, nicht selten erhofften, sie hinter uns gelassen zu haben. Sie zeigen uns, wer wir waren.“
»In den Dingen verdichten sich Geschichten. Sie blühen auf, wenn man die Gegenstände in die Hand nimmt.«
Was haben Mutter und Vater aufgehoben und warum? Was sollte die Tochter finden? Vieles hat Mayer nach dem Sortieren dem Sperrmüll überantwortet. Manches hat sie mitgenommen: Fotoalben, die alte Steinkoralle, einen besonderen Ring, Kostüm und Kleid, Kaftan und Reisemorgenrock der Mutter. Schönes altes Papier. Das Meissner Service, Likörschalen. Oder den Stopfkorb. „Der Stopfkorb hat sich lebensverändernd ausgewirkt. Ich flicke jetzt wieder.“ Sie frage sich manchmal, warum Menschen mit großer Selbstzufriedenheit davon erzählten, wie sie ausmisten und sich der Dinge entledigt hätten, mit denen sie viele Jahre verbracht hätten. „Was haben ihnen die Dinge getan?“
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Dinge erzählen von Wegen und Irrwegen
Die Funde, die Mayer im Haus macht, führen sie zur Recherche über ihre Familie. Dabei spart sie nichts aus, auch nicht die NS-Zeit. Sie schreibt über Wege und Irrwege, Alltag und Urlaub, Freude und Ärger, Liebe und Zuneigung. Aus der Beschreibung der Gegenstände und der Geschichten dazu entstehen ein Familienporträt und zugleich ein Bild der bundesdeutschen Gesellschaft, in der Mayer aufgewachsen ist.
»Ich werde die Dinge nicht vor der Anonymität retten können. Doch es tröstet, sie aufzuladen mit Gefühlen und Erinnerungen.«
Auch der Essayist Rainer Moritz ist in seinem Buch „Mein Vater, die Dinge und der Tod“ der Vergangenheit nachgegangen. „Je länger ich an meinen toten Vater denke, über dessen Leben ich viel zu wenig weiß, desto mehr sprechen seine Dinge zu mir“, stellt Moritz fest. Stuhl, Sessel, Fernseher, Kleiderschrank, Taschentücher oder die Unterschrift des Vaters – all das entfaltet ein eigenes Leben. Viele der väterlichen Hinterlassenschaften interessierten keine Menschenseele mehr – außer ihn selbst, so der Autor. Das bringt ihn dazu, auch über seine eigenen Dinge nachzudenken. „Wie lange werden sie weiterleben nach meinem Tod? Vor der Anonymität werde ich sie nicht retten können, wie ich die Dinge meines Vaters nicht davor bewahren kann. Doch es tröstet, es tut gut, sie aufzuladen mit Gefühlen und Erinnerungen.“
Der „Ahnenschrank“ mit Tischwäsche und Porzellan
Wer sich in seinem Bekanntenkreis umhört, der wird die unterschiedlichsten Auskünfte über das Bewahren bekommen. Barbara hat den Schrank, den sie von ihrer Mutter übernommen hat, den „Ahnenschrank“ getauft. Er steht im Wohnzimmer und ist gefüllt mit Porzellan, mit Tischwäsche und Erinnerungsstücken, darunter eine ganz besondere Vase, in der die Mutter früher immer die Alpenveilchen drapierte.
Sie habe kein besonders inniges Verhältnis zu ihrer Mutter gehabt, erzählt hingegen Manuela. „Ich konnte die meisten Sachen leichten Herzens weggeben, nur den alten Weihnachtsbaumschmuck habe ich behalten. Wenn ich den an den Baum hänge, kommen die Erinnerungen wieder hoch, die schlechten, aber auch die guten.“
Maria und Anton hüten nicht nur den Schmuck und die Tagebücher der Mutter, auch die Spargelplatte. „Wenn wir den Spargel auftun, sehen wir sie mit am Tisch sitzen“, sagt Maria und lächelt.
Erstmal aufheben, später sortieren
Beim Tod ihrer Mutter hat Bettina in ihrer Wohnung zwei Schränke freigemacht und darin die Lieblingskleidungsstücke der Mutter ebenso wie Unterlagen, Dias, Fotokisten deponiert. „Meine Mutter ist vor mehr als zwei Jahren verstorben. Aber erst jetzt kann ich peu à peu ran an diese beiden Schränke“, erzählt sie. „Ich bin so froh, dass ich all das aufgehoben habe.“
Ulrike hat die meisten Werke ihres Vaters, der ein bekannter Maler war, an dessen Heimatstadt gegeben. Seine gebündelten Skizzenblätter aber, die die Mutter früher im Nachtschrank aufbewahrte, hat sie behalten. Sie freut sich immer wieder, wenn sie sie betrachtet.
Die Pfeife des Großvaters, die im modernen Loft einen Ehrenplatz hat. Das Märchenquartett, das die Mutter während des Krieges auf Karton gezeichnet hat und mit dem jetzt die Ur-Enkel spielen. Der Ölschinken, der im Schlafzimmer der Großeltern über dem Bett hing und nun im Hausflur für fragende Blicke sorgt. Das Schnitzmesser, die Tonkrüge, das Spitzennachthemd, die alten Küchenhandtücher – die Vorfahren sind in vielen Haushalten noch präsent.
Kommunen bieten Haushaltsauflösungen an
Und was geschieht mit all dem, was nicht den Weg zu den Nachkommen findet? Das wandert in Antiquitätenläden, auf Flohmärkte, in Jugend- oder Seniorenklubs. Es bekommt eine neue Nutzung, ein weiteres Leben, losgelöst von all den Geschichten, die einmal damit verbunden waren. Oft übernehmen Kommunen gegen Bezahlung die Haushaltsauflösung. Vieles kommt auf den Sperrmüll, anderes wird aufgearbeitet. „Das ist ein zweischneidiges Schwert, bei Haushaltsauflösungen sind die Angehörigen oft sehr emotional“, weiß Robert Schilling. Er leitet in Erfurt das „Stöberhaus“ der Stadtwerke, in dem Möbel, Geschirr, Wäsche oder elektrische Geräte für kleines Geld neue Besitzer finden. „Wir bieten Hilfe und wir sind daran interessiert, Möbel zu erhalten. Aber wir müssen natürlich auch auf Wirtschaftlichkeit achten.“ Das Emotionale versuche er, so gut es geht, auszublenden.
Historische Dokumente werden manchmal in Stadt- oder Gemeindearchiven entgegengenommen. Ein Riesenschatz sind Tagebücher, die niemand leichtfertig dem Reißwolf übergeben sollte: Nachfolgende Generationen könnten sich einmal für die Familiengeschichte interessieren. Die Lücken, die beim Blick zurück auftreten? Kann man stehenlassen oder mit neuem Wissen füllen. Und in jedem Fall, wo immer es möglich ist, sollte man sich Zeit nehmen für die Vergangenheit.
Gastbeitrag des Online-Magazins Prinzip Apfelbaum (Ausgabe No. 12) auf der Grundlage des darin erschienenen Beitrags von Birgit Kummer. Alle Artikel und Ausgaben des Online-Magazins können Sie kostenlos lesen unter: www.das-prinzip-apfelbaum.de
Dies ist ein Gastbeitrag der “Initiative Apfelbaum – mein Erbe tut Gutes“. Die Stiftung Bildung benutzt eine gesellschaftlich bewusst reflektierte Sprache (bspw: mit*, Diskriminierungen vermeidend, Vielfalt der Gesellschaft sichtbar machen u.ä.) in all ihren eigenen Beiträgen, respektiert das Recht am eigenen Wort der*des Autor*in, veröffentlicht auf den eigenen Medien der Stiftung Bildung jedoch nur die der Compliance angepassten Texte.