Diesen Moment erleben wohl alle erwachsenen Kinder irgendwann: Plötzlich sind die Eltern nicht mehr diejenigen, die Halt geben. Sie werden älter und brauchen selbst Unterstützung. Dann ist es Zeit, die Kinderrolle endgültig zu verlassen. Filiale Reife bedeutet, zu den Eltern eine neue Beziehung auf Augenhöhe zu entwickeln. Wie kann das gelingen?
Meine Mutter und ich mussten erst auf einen Berg steigen, um zu verstehen, dass sich etwas verändert hatte. Es war ein Sommer in den österreichischen Alpen. Seit Tagen hatte ich mich auf diese Wanderung gefreut. Am Westhang sollte es hinaufgehen, dann über ein Hochplateau und anschließend durch eine Schlucht im Osten wieder bergab. Es würde eine lange, anspruchsvolle Wanderung werden. Eigentlich zu anstrengend für meine Mutter, die immerhin schon 69 Jahre war. Ich hätte es wissen müssen, ich hätte alleine gehen sollen oder verzichten. Doch meine Mutter bestand darauf, mich zu begleiten: Alleine sei es zu gefährlich. Sie wollte mich, ihre erwachsene Tochter, beschützen!
Meine Mutter weinte vor Schmerz, ich vor Wut
Es kam, wie es kommen musste. Schon der Aufstieg hatte meine Mutter sehr angestrengt. Oben angekommen, war das Plateau nicht eben, sondern zerklüftet. Der Weg führte immer wieder durch die Mulden, ein ermüdendes Auf und Ab. Nach drei Stunden war meine Mutter völlig erschöpft und knickte mit dem Fuß um. Sie weinte vor Schmerzen. Und auch ich hätte am liebsten geweint – vor Wut über mich selbst, darüber, dass ich sie in diese Situation gebracht hatte. Am Ende schaffte es meine Mutter, trotz des schmerzenden, geschwollenen Fußes, ohne Hilfe abzusteigen. Wir sind seitdem nicht mehr zusammen in die Berge gefahren. Ich musste einsehen, was meine Mutter so gerne vor sich selbst und mir verstecken würde: dass sie schwächer geworden ist und ich langsam anfangen muss, mehr auf sie aufzupassen.
»Ich musste einsehen, was meine Mutter so gerne vor sich selbst und mir verstecken würde: dass sie schwächer geworden ist.«
Plötzlich auf sich allein gestellt
„Filiale Krise“ nennt die Psychologie die Situation, wenn sich vertraute Rollen verschieben. Es ist ein Umbruch im Leben, vergleichbar mit der Geburt des ersten Kindes, wenn aus Kindern Eltern werden. Dass die eigenen Eltern in ein Alter gekommen sind, indem sie mehr und mehr auf Hilfe und Unterstützung angewiesen sein werden, ist eine schmerzhafte Erkenntnis. Jahrzehntelang bietet das Wissen, dass es die Eltern gibt, auch erwachsenen Kindern ein Gefühl von Schutz und Sicherheit. Das ist irgendwann vorbei. Die erwachsenen Kinder sind dann auf sich alleine gestellt. Sie stehen ganz vorne in der Generationenfolge und müssen entsprechend Verantwortung übernehmen. Und nicht zuletzt erinnert die Verletzlichkeit der Eltern auch an das eigene Älterwerden, an die eigene Endlichkeit.
Die Krise kann ganz langsam einsetzen: Die Eltern können nicht mehr wie früher flexibel als Babysitter bei ihren Enkeln einspringen. Sie sind schneller müde, vergesslich und wirken mit dem eigenen Haushalt überlastet. Womöglich werden sie auch immer eigenwilliger und lassen sich nur noch schwer von etwas Neuem überzeugen. In anderen Fällen kommt die Veränderung ganz plötzlich: durch einen Sturz oder eine schwere Krankheit, durch die die Mutter oder der Vater plötzlich eingeschränkt ist.
Das Konzept der „filialen Reife“
Die neue Lebensphase der Eltern erfordert von den erwachsenen Kindern, sich weiterzuentwickeln. Die US-amerikanische Sozialarbeiterin Margaret Blenkner beschrieb bereits in den 1960er Jahren das Konzept der „filialen Reife“. Sie setzte es der Vorstellung eines tatsächlichen „Rollentausches“ von Eltern und Kindern entgegen. Schließlich geht es darum, Verantwortung und Fürsorge für die Eltern zu übernehmen, ohne sie in eine Kinderrolle zu drängen. Anstatt Vater oder Mutter zu bevormunden, sollten erwachsene Kindern versuchen, auf Augenhöhe zu bleiben. Anstatt zu sagen: „Dir geht es nicht gut. Du musst zum Arzt gehen!“, sollte es vielmehr heißen: „Ich bin beunruhigt. Lass dich bitte untersuchen, damit ich mir keine Sorgen mehr machen muss.“ Das macht es für die alternden Eltern leichter, einen Rat anzunehmen. Schließlich haben sie selbst am meisten mit ihrer neuen Hilfsbedürftigkeit zu kämpfen.
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Filiale Reife bedeutet, Verständnis für die Bedingungen des Alters zu entwickeln und die Eltern in dieser schwierigen Lebensphase zu unterstützen. Die Schweizer Gerontopsychologin Bettina Ugolini regt dazu an, in dieser Situation die Eltern in ihrer Biografie zu betrachten: etwa die Mutter als eine Frau mit eigener Lebensgeschichte, Träumen, Wünschen, Beruf und Sexualität. Wem es gelingt, die Eltern als Ganzes zu sehen, kann besser aus der eigenen Kinderrolle heraustreten und die erlebten Verletzungen, die möglicherweise noch immer das Verhältnis zu den Eltern belasten, zurückstellen.
Hinwendung bedeutet oft auch Pflege
Über die Hälfte der 3,4 Millionen Pflegebedürftigen in Deutschland werden ausschließlich von ihren Angehörigen versorgt. In den meisten Fällen sind das Ehepartner oder Töchter. Je besser die alten Konflikte in der Familie bewältigt wurden, desto eher kann die Fürsorge für die alternden Eltern gelingen. Es gilt, die „offenen Rechnungen“ zu begleichen. Wer etwa hofft, durch die Pflege der Eltern endlich deren lang ersehnte Liebe und Zuneigung zu erfahren, dürfte enttäuscht werden. Die Psychologin Ugolini warnt auch vor völliger Selbstaufgabe: „Die Tochter darf nicht die Mutter der eigenen Mutter werden.“ Wer sich aus Schuldgefühlen aufopfere, sei schnell überfordert – eine Situation, unter der letztendlich beide Seiten leiden müssten.
Wie sich die Beziehung zu den Eltern in deren abschließender Lebensphase gestaltet, hängt nicht zuletzt davon ab, welches Verhältnis man zuvor zueinander hatte. Wer sich auseinandergelebt und entfremdet hat, wird möglicherweise auch zu den hilfsbedürftigen Eltern ein distanziertes Verhältnis behalten. Andere ergreifen dagegen die Chance für eine Annäherung. Das erfordert von den erwachsenen Kindern Respekt und Verständnis für die Situation im hohen Alter. Doch auch die Eltern müssen sich öffnen, möglicherweise eine lange gehegte Ablehnung gegenüber den Kindern überwinden, die eigene Lage akzeptieren und die Hilfe annehmen. Das falle vielen älteren Menschen „sehr, sehr schwer“, wie Ugolini schreibt.
Rechtzeitig Erwartungen klären
In vielen Fällen seien „unausgesprochene Erwartungen“ der Kern allen Übels, meint die Gerontopsychologin. Was soll einmal werden, wenn…? – Darüber sollte rechtzeitig gesprochen werden, nämlich bevor eine Pflege notwendig wird oder schwierige Entscheidungen getroffen werden müssen. Dabei sollte es darum gehen, welche Wünsche und Erwartungen die Eltern haben. Aber auch darum, wie viel die erwachsenen Kinder bereit sind, zu geben: Welche Ressourcen habe ich? Worauf kann ich in meinem bisherigen Leben verzichten, worauf nicht? Wer sich rechtzeitig darüber Gedanken macht, der kann besser Grenzen setzen und Hilfe von außen hinzuziehen, wenn es soweit ist.
Sich mit der letzten Lebensphase auseinanderzusetzen, bedeutet auch, über Wünsche und Vorstellungen für das Lebensende zu sprechen, über Patientenverfügung, die Betreuung und das Testament. Wie haben die Eltern ihren Nachlass geregelt? Welche Ziele und Wünsche verbinden sie mit ihrem letzen Willen? Wie können die künftigen Erben diese am besten umsetzen? Das sind schwierige Fragen, die gerne verdrängt werden. Dennoch sollten erwachsene Kinder das Gespräch suchen und dabei nicht gleich aufgeben. Es braucht oft mehr als einen Anlauf, um die Eltern zum Reden zu bringen.
»Wir saßen zu zweit im Auto und konnten ungestört reden.«
Bereit sein zum Reden
Manchmal reicht es, wenn erwachsene Kinder ihre Aufgeschlossenheit für diese Themen signalisieren. Vor einiger Zeit erzählte ich meiner Mutter – eher zufällig – von einem Zeitungsartikel über Erbschaftsstreitigkeiten. Wir saßen gerade zu zweit im Auto und konnten ungestört reden. Ohne es zu ahnen, hatte ich ins Schwarze getroffen. Das Thema schien sie schon seit längerem zu beschäftigen. Meine Mutter wurde plötzlich sehr ernst und erläuterte mir ganz genau, was einmal mit ihren Hinterlassenschaften geschehen solle. Das Gespräch war unangenehm und verwirrend. Doch seitdem ist vieles für uns geklärt. Und dazu mussten wir diesmal nicht erst auf einen Berg steigen.
Gastbeitrag des Online-Magazins Prinzip Apfelbaum (Ausgabe No. 11) auf der Grundlage des darin erschienenen Beitrags von Wibke Bergemann. Alle Artikel und Ausgaben des Online-Magazins können Sie kostenlos lesen unter: www.das-prinzip-apfelbaum.de
Dies ist ein Gastbeitrag der “Initiative Apfelbaum – mein Erbe tut Gutes“. Die Stiftung Bildung benutzt eine gesellschaftlich bewusst reflektierte Sprache (bspw: mit*, Diskriminierungen vermeidend, Vielfalt der Gesellschaft sichtbar machen u.ä.) in all ihren eigenen Beiträgen, respektiert das Recht am eigenen Wort der*des Autor*in, veröffentlicht auf den eigenen Medien der Stiftung Bildung jedoch nur die der Compliance angepassten Texte.