David Ensikat ist Nachrufeschreiber beim Berliner Tagesspiegel. In seinen Texten würdigt er das Leben ganz normaler Menschen und führt dazu lange Gespräche mit Angehörigen und Freund*innen. Das Erinnern und Erzählen helfe bei der Trauerarbeit, sagt er. Ein Gespräch über den Umgang mit Tod, Trauer und Erinnerungen.
Ein Interview von Wibke Bergemann
Man könne über jeden Menschen einen wunderbaren Nachruf schreiben, hat David Ensikat einmal gesagt. Seit mehr als 15 Jahren betreut er die Nachrufseite im Berliner Tagesspiegel. Jede Woche erscheint eine Seite mit zwei bis drei Porträts verstorbener Berliner*innen. Es geht nie um Prominente, sondern um unbekannte, „ganz normale“ Menschen. Die Autor*innen führen lange Gespräche mit Angehörigen und Freund*innen über die schönen und die nicht so schönen Momente im Leben der Verstorbenen. So entstehen behutsame Geschichten von ganz unterschiedlichen Lebenswegen.
Menschen gehen sehr unterschiedlich mit Trauer um. Was erleben Sie bei Ihren Begegnungen mit den Hinterbliebenen?
Ich treffe mich mit den Leuten mehrere Wochen oder sogar Monate nach dem Tod. Da ist der erste Augenblick des Abschieds schon vorbei, die Trauer steht nicht mehr so sehr im Vordergrund, man ist freier, über das Vergangene zu sprechen. Man kann das trotzdem Trauerarbeit nennen, im besten Sinne. Oft sagen die Leute, dass es das Beste war, was ihnen in der Situation passieren konnte: sich noch einmal bewusst zu machen, was das für ein Mensch war, was sein Leben ausgemacht hat.
Wenn jemand stirbt, erinnert man sich ja auch in der Familie und unter Freunden oft gemeinsam an diesen Menschen.
Es gibt diese guten Augenblicke, wo man fast vergessene Episoden hervorkramt, „Mensch, weißt du noch?“ Aber die passieren selten. Meistens spricht man über die jüngste Vergangenheit, Krankheit, Krankenhaus. Man erzählt sich diese merkwürdigen kleinen Ausschnitte, die gar nicht so viel damit zu tun haben müssen, wer die Verstorbenen tatsächlich waren, was ihr Leben ausgemacht hat. Als Journalist komme ich mit einem klaren Erkenntnisinteresse. Ich will die entscheidenden, die erzählbaren Geschichten aus dem Leben. Dadurch sind die Leute gefordert, Dinge zu ordnen, Bilder zu entwerfen und sich auch mit den Bildern, die ich ihnen spiegle, auseinanderzusetzen.
Meistens melden sich Hinterbliebene bei uns, wir haben unten auf der Seite einen kleinen Aufruf stehen. Ich rufe auch Leute an, die unter Traueranzeigen stehen. Und es gibt auch Zufälle: Ich sehe in einer Kneipe einen Aushang und frage den Wirt. Neulich ist in der Ostermesse erzählt worden, dass das treueste Gemeindemitglied gestorben sei. Das hat eine Freundin mir erzählt. Der Mann hatte schlimme Dinge erlebt: Seine Frau wurde ermordet, sein Sohn hat sich zu Tode gesoffen und er selbst litt sein Leben lang an einer chronischen Lungenentzündung. Ein Hiob, der als frommer Christ sein Schicksal auf stoische Weise hinnahm. Über den Pfarrer bin ich an die Familie gelangt.
Wie reagieren die Angehörigen, wenn Sie mit ihnen Kontakt aufnehmen?
In diesem Fall kannte die Tochter die Nachrufseite und war gleich zu einem Treffen bereit. Allerdings brach sie schon am Telefon in Tränen aus und war sich nicht sicher, ob sie so ein Gespräch überhaupt aushalten könne. Ich habe ihr gesagt, dass es ihr guttun werde. Das mag nach Hybris klingen, aber es ist meine Erfahrung. Das Gespräch war dann auch wirklich gut, vier Stunden lang. Sie hat zwar immer mal mit den Tränen gekämpft, aber wir haben zwischendurch auch gelacht.
Ist es schwer, auch über die nicht so schönen Seiten eines Verstorbenen zu sprechen?
Die Tochter war natürlich überzeugt, dass sie von ihrem Vater als einem Helden spricht, der diesen tollen Christenglauben hatte, der ihn so stark gemacht hat, dass er das alles ertragen hat. Ich hinterfrage so etwas: Spielte Naivität eine Rolle, schlichtes Verdrängen? Die Tochter war überrascht, sie hatte das nie so gesehen und auch nicht erwartet, dass es so stark um diesen Punkt gehen würde. Viele Hinterbliebene haben eine gewisse Vorstellung davon, wie die Geschichte ihres geliebten Menschen aussehen sollte. Sie wollen ihm ein Denkmal setzen. Dagegen will ich eine interessante Geschichte über einen Menschen erzählen, die die Leute lesen wollen, obwohl er völlig unbekannt war. Das stelle ich gleich zu Anfang klar. Zum Glück gibt es zwischen diesen beiden Interessen viele Schnittmengen.
»Ich will die erzählbaren Geschichten aus dem Leben. Dadurch sind die Leute gefordert, Dinge zu ordnen, Bilder zu entwerfen und sich auseinanderzusetzen.«
Kostet es Sie Überwindung, bei Trauernden derartig zu bohren?
Mein Nachfragen kommt nie schlecht an. Ich stelle Fragen, die sie sich vielleicht selbst schon mal gestellt haben oder sich nicht getraut haben zu stellen. Ihre Zweifel bekommen dann womöglich eine Berechtigung: Wenn der von der Zeitung danach fragt, dann ist da vielleicht was dran. Das sage ich auch immer den Autoren, die ich anlerne: Seid ehrlich, seid provokant, das wird euch immer als Offenheit und Interesse ausgelegt.
Möchten Sie mit Ihrem Erbe oder Nachlass Bleibendes schaffen?
Wir informieren Sie gern über die verschiedenen Möglichkeiten des Stiftens.
Wie finden Sie die richtigen Worte?
Meiner Erfahrung nach soll man mit Trauernden sprechen wie mit allen anderen, nämlich deutlich und nicht verdruckst. Ich muss einem Menschen nicht formelhaft mein Beileid bekunden, um ihm zu signalisieren, dass ich bei ihm bin. Auch wenn ich den Eindruck habe, dass es zunächst verschwiegen werden soll, frage ich ganz offen: War er Alkoholiker? War er schwul?
»Meiner Erfahrung nach soll man mit Trauernden sprechen wie mit allen anderen, nämlich deutlich und nicht verdruckst. «
Gibt es auch Punkte, die Sie erfahren, aber nicht aufschreiben?
Natürlich, das ist Teil der Vereinbarung. Das stelle ich gleich zu Beginn immer klar. Die Leute müssen mir sagen, was ich nicht aufschreiben darf. Daran halte ich mich, und das ist die Voraussetzung für die ganze Offenheit.
Wie gehen Sie mit der Trauer und anderen Gefühlen um, die während der Gespräche aufkommen?
Ich glaube, dass die Leute bei den Autorinnen mehr Gefühle zulassen, weil die wahrscheinlich vorsichtiger und weniger konfrontativ nachfragen. Wenn dagegen ein eher sachlicher Kerl da sitzt und direkt zur Geschichte kommen will, dann herrscht da eine ganz andere Atmosphäre. Beide Varianten sind aber gut. Wenn jemand während des Gesprächs anfängt zu weinen, mache ich eine Pause und gebe ihm alle Zeit. Manchmal versuche ich dann, das Gespräch auf ein Thema zu lenken, das nicht so emotional ist, oder spreche selbst erstmal. Das hat schon manchmal was von einer Therapiestunde.
Überschreitet man nicht teilweise die Schwelle des Anstands?
Nein. Man kann ja offensiv sein und trotzdem ganz höflich bleiben. Manchmal entschuldige ich mich für meine Nachfragen oder Mutmaßungen. Aber natürlich ist es eine Art Grenzüberschreitung. Wir dringen so schnell und tief ins Intime, wie das sonst in kaum einer journalistischen Situation passiert. Ich will auf frühkindliche Prägungen hinaus: War der Vater da, oder nicht? Hat die Mutter das Kind überhaupt gewollt?
Ich habe gelesen, Sie erheben keinen Anspruch auf Wahrheit.
Das ist natürlich etwas zugespitzt. Aber wir haben nur selten die Gelegenheit, das, was uns erzählt wird, doppelt zu checken. Meistens sind wir auf die Erinnerungen der Hinterbliebenen angewiesen und wir wissen doch, was da passiert. Das muss man einfach hinnehmen. Das ist Teil des Unterfangens. Wir machen Geschichten auf Grundlage eines oder zweier Gespräche. Mit dem Anspruch auf eine objektive Wahrheit geht das nicht.
Belastet es Sie, sich so viel mit dem Tod zu beschäftigen?
Wir hatten eine Autorin, die hat immer erstmal mit den Leuten zusammen geweint und war mit denen mitten drin in der Trauer. Als sie aufgehört hat, habe ich das gut verstanden. Das schafft man nicht. Aber die meisten Autor*innen erleben eher Glücksmomente. Man merkt es ja, dass so ein Gespräch den Trauernden hilft, und das tut gut.
Man darf also die Trauer der anderen nur bis zu einer bestimmten Grenze an sich heranlassen?
Vor ein paar Jahren habe ich mit einer Frau gesprochen, deren Tochter bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist. Die Tochter war ungefähr so alt wie meine damals. Das war wirklich hart. Das würde ich nicht noch einmal machen. Je näher die Geschichte am eigenen Leben dran ist, desto schwerer ist es, diese Grenze zu ziehen.
Zwangsläufig müssen Sie sich immer wieder mit dem Tod beschäftigen.
Leute glauben, wer das tut, müsste einen Blick in den großen Abgrund geworfen, hinters Licht geschaut haben. Das habe ich nicht. In einem Nachruf philosophiert man ja nicht über den Tod. Dazu fallen mir auch nur leere Floskeln ein, „der kann zu jeder Zeit eintreffen“ und sowas. Tut mir leid.
»Der Tod meines Vaters hat meinen Blick auf den Tod verändert. Ein Gespräch, wie wir es führen, hätte mir damals vielleicht auch gutgetan.«
Wir alle verdrängen den Tod, Sie können das gar nicht.
Aber ich verdränge auch den Tod, Woche für Woche. Das sind ja keine Geschichten vom Sterben. Wir schreiben zwar über Menschen, die gestorben sind, aber eigentlich erzählen wir von ihrem Leben.
Hat die Arbeit also nicht Ihren Blick auf den Tod verändert?
Der Tod meines Vaters hat meinen Blick auf den Tod verändert. Viel mehr als die Arbeit. Das hat mich wirklich umgehauen. Darauf war ich trotz meiner vielen Gespräche mit Trauernden nicht vorbereitet. Ein Gespräch, wie wir es mit den Hinterbliebenen führen, hätte mir damals vielleicht auch gutgetan.
Gastbeitrag des Online-Magazins Prinzip Apfelbaum (Ausgabe No. 3) auf der Grundlage des darin erschienenen Interviews von Wibke Bergemann mit David Ensikat. Alle Artikel und Ausgaben des Online-Magazins können Sie kostenlos lesen unter: www.das-prinzip-apfelbaum.de
Dies ist ein Gastbeitrag der “Initiative Apfelbaum – mein Erbe tut Gutes“. Die Stiftung Bildung benutzt eine gesellschaftlich bewusst reflektierte Sprache (bspw: mit*, Diskriminierungen vermeidend, Vielfalt der Gesellschaft sichtbar machen u.ä.) in all ihren eigenen Beiträgen, respektiert das Recht am eigenen Wort der*des Autor*in, veröffentlicht auf den eigenen Medien der Stiftung Bildung jedoch nur die der Compliance angepassten Texte.