von Angelika S. Friedl
Viele Menschen möchten ihre Erfahrungen an Kinder, Enkel oder an die nächste Generation weitergeben. Oft fragen aber auch die Jüngeren die Älteren: Wie war das damals? Warum hast du dich so und nicht anders entschieden? Gelebte Erinnerungen sind ein großer Schatz. Sie können bereichernd sein, oder lustig, manchmal auch traurig. Eine Anregung zum Dialog.
Mein Großvater war ein großer Geschichtenerzähler. Er erzählte lebendig und streute gerne witzige oder dramatische Elemente ein. Wie er einmal in der Nachkriegszeit Handschuhe verkaufte, die dummerweise entweder nur links- oder rechtsseitig getragen werden konnten. Wie es ihm gelang, einen florierenden Tauschhandel mit Zigaretten aufzubauen. Wir Kinder liebten seine Geschichten. Aber als Jugendliche und junge Erwachsene hatte ich erst einmal andere Interessen.
Der wahre Wert der Erzählungen wurde mir erst später bewusst. Als ich alt genug, wieder alte Geschichten hören zu wollen, war es manchmal schon zu spät. Wie enttäuscht war ich, als ich die Mutter einer Freundin nicht mehr nach ihrem Leben befragen konnte. Sie hatte noch die Zeit erlebt, als die Bauernschaft weitgehend selbstversorgend war. Natürlich hätte ich bäuerliche Lebensformen auch in Büchern studieren können. Aber wie viel inspirierender wären persönliche Erinnerungen gewesen?
Als Zeitzeugin Schüler*innen berichten
Ähnlich wie mein Großvater ist auch die 97-jährige Else Danielowski von der Zeitzeugenbörse in Berlin eine geübte Erzählerin. Schülerinnen und Schüler besuchen sie in ihrer Wohnung. Sie erzählt ihnen dann zum Beispiel von den Jahren ihrer Kindheit, die sie in einem jüdisch-kommunistischen Kinderheim verbrachte, von der wirtschaftlichen Not in der Weimarer Zeit oder von der Nacht im Februar 1945, die sie im Dresdener Hauptbahnhof verbringen musste, kurz bevor die Stadt im Bombenhagel zerstört wurde. „Ich bin nach den Gesprächen noch Stunden später wie aufgeputscht. Aber das Erzählen macht mir großen Spaß“, sagt die Berlinerin.
Ab einem gewissen Lebensalter wollen viele Menschen wissen, wie das Leben früher war. Die Erfahrung machte auch die ehemalige Altenpflegerin Sonja Schiff. Sie betrachtet es als besonderes Privileg, dass sie 27 Jahre lang die Lebenserfahrungen alter Menschen sammeln konnte. In ihrem Buch „10 Dinge, die ich von alten Menschen über das Leben lernen durfte“ beschreibt sie unter anderem, wie es sie berührt, wenn alte Menschen versuchen, ihre Träume von früher noch einmal zu leben. Sonja Schiff hat das ermutigt, selbst mehr ihrer inneren Stimme zu vertrauen.
Erzählen tut gut
Vom Gespräch zwischen den Generationen profitieren aber nicht nur die Zuhörer*innen, sondern auch die Erzählenden. Viele ältere Menschen verspüren den Wunsch, ihre Erlebnisse weiterzugeben. Das beweisen die vielen Zeitzeug*innen, die Besucher durch Stasigefängnisse und Konzentrationslager führen oder in Erzählcafés über ihre Erfahrungen von Flucht, Zerstörung und Wiederaufbau berichten. Es müssen aber nicht immer solch einschneidende Erfahrungen sein. Oft sind es auch Ideen, Wünsche und auf den ersten Blick weniger bedeutende Erlebnisse der Vergangenheit, die ein Band zwischen Alt und Jung knüpfen.
»Erinnerungen können uns mit Freude erfüllen und uns daran erinnern, was uns im Leben wichtig ist.«
„Es ist wichtig, Erinnerungen an die nächste Generation weiterzugeben. Wir wissen nie, welche unserer Lebenserfahrungen für jemanden hilfreich sind“, sagt die Karlsruher Psychologin Robin Lohmann. Wer sich mit seinen Erinnerungen verbinde, tue sich aber vor allem selbst etwas Gutes: „Erinnerungen sind eine starke Quelle von Ressourcen. Sie können uns mit Freude erfüllen und uns daran erinnern, was uns im Leben wichtig ist.“ Erinnerungen können uns auf versteckte Probleme hinweisen, doch sie zeigen uns auch mögliche Lösungen, um Krisen zu überstehen.
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Ohne Gedächtnis keine Identität
Wie wichtig Erinnerungen für die menschliche Entwicklung sind, weiß die Forschung erst seit etwa 30 Jahren. Nur wer sich erinnert, besitzt eine eigene Identität. „Wir sind Erinnerung“ heißt die treffende deutsche Übersetzung des Titels eines Buches des amerikanischen Gedächtnisforschers Daniel Schacter. Um uns an vergangene Ereignisse erinnern zu können, brauchen wir das sogenannte episodische oder autobiographische Gedächtnis, das uns mit allen Sinnen die Vergangenheit wiedererleben lässt. Wir fühlen noch einmal die Wut über ein verlorenes Fußballspiel oder hören die Stimme der Mutter, die über das Chaos im Kinderzimmer schimpft. Wenn das episodische Gedächtnis durch einen Unfall beschädigt wird oder ganz ausfällt, hat das für die Betroffenen mitunter dramatische Folgen. Zwar wissen sie zum Beispiel, dass sie Geschwister haben, können sich aber nicht mehr an Gespräche mit ihnen erinnern.
»Wer die Frage ‘Wer bin ich?’ beantworten möchte, muss zunächst wissen: Wer war ich in der Vergangenheit?«
Und noch etwas: Mit dem Gedächtnisverlust geht auch die Fähigkeit verloren, sich eine persönliche Zukunft vorzustellen. Denn episodisches Erinnern und Zukunftsdenken sind zwei Seiten ein und derselben Medaille, wie Psychologen herausgefunden haben. Sich ein Ereignis in der Zukunft plastisch vorzustellen, brachte dem Menschen vermutlich einen großen evolutionären Vorteil. Erinnerungen sind das Bindeglied zwischen den Ereignissen der Vergangenheit und den Möglichkeiten der Zukunft, meint Robin Lohmann. Wer die Fragen „Wer bin ich? und „Wer möchte ich in der Zukunft sein?“ beantworten möchte, muss zunächst wissen: Wer war ich in der Vergangenheit?
Basis der Zivilisation
Erinnerung ist die Basis einer sozialen Gesellschaft und der menschlichen Kultur. Weil Ältere ihre Kenntnisse weitergegeben haben – erst mündlich, später auch mit visuellen und schriftlichen Methoden – und weil Jüngere von ihnen lernen wollten. Durch diesen Prozess entsteht Zivilisation. Werden Wissen und Erinnerung nicht mehr weitergetragen, geht die Vergangenheit verloren. Der römische Politiker und Redner Marcus Tullius Cicero hat dazu einmal gesagt: „Nicht zu wissen, was vor der eigenen Geburt geschehen ist, heißt, für immer ein Kind zu bleiben.“
Die Berliner Zeitzeugin Else Danielowski trägt dazu bei, dass die Vergangenheit ein Stück lebendig bleibt. „Es ist mein Lebensinhalt, mich mit meinem Leben und der Geschichte Berlins zu beschäftigen“, erzählt sie. Sie weiß noch genau, in welchem Jahr ihre Tante verstorben ist, und dass sie in ihrer Kindheit sieben verschiedene Schulen besucht hat. Ihre Konzentrationsfähigkeit ermöglicht es ihr, lange Gespräche mit ihren Besuchern zu führen. Wie aber schafft man es, Erinnerungen zum Leben zu erwecken, die im Gedächtnis nur noch verschwommen vorhanden sind? „Orte, Menschen und Gegenstände sind starke Auslöser“, erklärt die Psychologin Lohmann. „Wenn wir Erinnerungen aus einer bestimmten Phase unseres Lebens wiedererwecken wollen, sollten wir uns geistig mit den Menschen, Gegenständen oder Orten aus dieser Zeit beschäftigen.“ Mit dieser Methode hat auch Else Danielowski ihr Gedächtnis erfolgreich trainiert.
Wann habe ich Freude erlebt?
Der Erinnerung auf die Sprünge helfen auch Sprüche der Eltern, ein Lebensmotto oder Metaphern, die einem in einer bestimmten Situation in den Sinn kommen. Eine schöne Möglichkeit ist auch, sich zu fragen, wann und wie wir Freude erlebt haben. Wer in eine freudige Situation eintaucht, kann sie wiedererleben. Dagegen sollte man sich schmerzhaften Erinnerungen eher vorsichtig nähern. Doch auch sie können im Rückblick wertvolle Erkenntnisse bringen.
„Die Erinnerung ist eine Form der geistigen Zeitreise; sie befreit uns von den Fesseln von Zeit und Raum und gestattet uns den Aufbruch in vollkommen andere Dimensionen“, schrieb der amerikanische Neurowissenschaftler und Nobelpreisträger Eric Kandel. Eine Zeitreise habe ich immer gemacht, wenn ich meinen Großvater fragte: „Erzähl doch mal, wie war das damals, als du Oma kennengelernt hast oder als die Amerikaner kamen!“ Ich hatte dann das Gefühl, ein Stück mehr mit dieser fernen Vergangenheit verbunden zu sein und besser zu verstehen, wie auch ich wurde, was ich bin. Die Verbindung zwischen den Generationen beschwört auch Else Danielowski: „Ich möchte den Jüngeren sagen: Eure Vorfahren sind wichtig. Ihr seid nicht allein auf dieser Welt, sie wirken in euch weiter“.
Gastbeitrag des Online-Magazins Prinzip Apfelbaum (Ausgabe No. 8) auf der Grundlage des darin erschienenen Beitrags von Angelika S. Friedl. Alle Artikel und Ausgaben des Online-Magazins können Sie kostenlos lesen unter: www.das-prinzip-apfelbaum.de
Dies ist ein Gastbeitrag der “Initiative Apfelbaum – mein Erbe tut Gutes“. Die Stiftung Bildung benutzt eine gesellschaftlich bewusst reflektierte Sprache (bspw: mit*, Diskriminierungen vermeidend, Vielfalt der Gesellschaft sichtbar machen u.ä.) in all ihren eigenen Beiträgen, respektiert das Recht am eigenen Wort der*des Autor*in, veröffentlicht auf den eigenen Medien der Stiftung Bildung jedoch nur die der Compliance angepassten Texte.