Julia Latscha fordert den gesellschaftlichen Wandel: Das Gejammer über die Schwierigkeiten von Inklusion sei laut, stellt sie fest. Aber das Problem seien nicht Geld oder mangelnde Ressourcen: „Die größte Hürde ist unser fehlender Wille.“
Ich bin wütend. In letzter Zeit häufen sich die negativen Berichte zum Thema inklusive Bildung. Verzweifelte Lehrkräfte und die herausfordernden Verhaltensweisen von Kindern spielen dabei eine wichtige Rolle. Die Unwegsamkeit der Inklusion im deutschen Bildungssystem steht im Zentrum des Gewitters der Diskussion. Ich will den Mangel an Ressourcen und sozialpädagogisch versierten Lehrkräften nicht kleinreden. Das ist ein großes Problem. Unumstritten. Das Anprangern der Sparpolitik an den falschen Stellen ist wichtig. Die Hürden scheinen hauptsächlich in der praktischen Umsetzung zu liegen. Hier geht es aber um viel mehr: Wir haben ein sozial-gesellschaftliches Problem, ein Haltungsproblem.
Wo auch immer ich im gesellschaftlichen Leben mit meiner heute vierzehnjährigen Tochter erscheine, stehen wir im Mittelpunkt. Weil Lotte im Rollstuhl sitzt, sie besser schreien als sprechen kann, ihre Arme häufig haltlos durch die Luft rudern oder ihr Spucke aus dem Mund tropft. Ganz normal, denke ich, denkt auch Lottes jüngerer Bruder. Wir kennen es nicht mehr anders. Und vor allem wissen wir um Lottes Talente. Sie kann tanzen, sodass jede Körperzelle den Rhythmus der Musik mitwippt. Sie hat Humor. Ihr Lachen ist ansteckend. Und ganz nebenbei kann sie auch lesen, rechnen und schreiben. Aber nur, wenn sie will und die richtige Person neben ihr sitzt.
Verschwinden in Sondersystemen
Dass Lotte das alles kann, ahnen nur wenige. Denn Lotte steckt schon in der Schublade des „armen behinderten Mädchens“, bevor viele ihrer Mitmenschen ihre Fähigkeiten erkennen wollen. Deswegen ist es auch ganz normal, dass meine Tochter morgens mit einem Spezialbus in eine Förderschule gebracht wird und in Zukunft in einer Einrichtung für Menschen mit Behinderung leben soll. Das wollte die Amtsärztin bei Lottes Einschulung bereits so, das will das Jugendamt heute und das erwartet auch der größte Teil der Gesellschaft. „Aus den Augen, aus dem Sinn“, heißt es sprichwörtlich. Das stimmt. Jeder zehnte Mensch in Deutschland hat eine Behinderung. Die meisten verschwinden frühzeitig in Sondersystemen, in einer Parallelwelt.
Lotte wurde 2008 eingeschult. 2009 trat die UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland in Kraft. Seitdem hat jedes Kind mit Behinderung das Recht, gleichberechtigt eine Regelschule zu besuchen. Die dafür notwendige Unterstützung muss gewährt werden.
Meine Gedanken drehten sich damals mehr ums Überleben und weniger um ein Leben inmitten der Gesellschaft. Heute habe ich eine andere Sicht auf die Dinge. Ich will teilhaben an einem aktiven Umdenken und Umgestalten unserer sozialen Strukturen. Und auch meine Tochter zeigt in ihren Reaktionen eindeutig, dass ihr ein Leben innerhalb der Gesellschaft definitiv besser gefällt als am Rande.
Unterschiedlich begabte Kinder
Der Lärm der Verzweiflung übertönt allzu schnell die leiseren Töne. Aber diese sind essenziell. Nicht die befürchtete Benachteiligung von Menschen ohne Behinderungen sollte im Fokus stehen, sondern die andauernde Entmündigung von Menschen mit Behinderungen. Und jetzt muss ich mal auf den Tisch hauen: Kinder ohne eine Behinderung lernen nicht weniger, wenn sie gemeinsam mit Kindern mit einer Behinderung unterrichtet werden. Nur anders. Und wahrscheinlich mehr fürs Leben.
Es ist längst an der Zeit, die gängigen Unterrichtsinhalte zu hinterfragen, sie an die gegenwärtigen und zukünftigen Herausforderungen der Menschheit anzupassen. Zusammenhalt statt Trennung. Vielfalt statt Einfalt – auch, wenn das sehr anstrengend ist.
Nicht die herausfordernden Kinder sind die Ursache für die Überforderung des deutschen Bildungssystems, sondern die strukturelle, vor allem aber auch gedankliche Unflexibilität. Weil bisher versucht wurde, Menschen für Strukturen passend zu machen, anstatt die Strukturen grundlegend zu verändern. Weil es einfacher ist, auf einem Trampelpfad zu gehen, als neue Wege zu finden. Weil Gewohntes mehr Halt gibt als Neuland. Weil zwischen „normal“ und „nicht normal“ unterschieden wird. So muss das scheitern. Schon bevor die UN-Behindertenrechtskonvention in Kraft getreten ist, war das dreigliedrige Schulsystem zu starr für die vielen unterschiedlich begabten Kinder.
Inklusion ist ein Menschenrecht
In einigen anderen europäischen Ländern aber gelingt Inklusion. Auch an vereinzelten Orten in Deutschland: in Familien, in Kindergärten und Schulen. In Wohngruppen und manchen Betrieben. Immer dann, wenn der Mensch im Mittelpunkt steht und nicht seine körperlichen und kognitiven Merkmale; wenn bereits vorhandene Ressourcen genutzt werden und sich beispielsweise Förderschulen auch für Regelschulkinder öffnen; wenn sich Lehrkräfte, Eltern und Mitmenschen über alle Maßen engagieren; wenn nicht ausschließlich Leistungen zählen, sondern zusätzlich zu Lehrinhalten auch Werte vermittelt werden.
Inklusion ist ein Menschenrecht. Deswegen haben wir keine Alternative. Wir können nicht so lange warten, bis sich ein ideales Bildungssystem etabliert hat – das wird es nie geben. Inklusion ist eine Haltung. Und gerade diese Einstellung ist das Fundament für einen transformativen Prozess. Das müssen wir begreifen. Und wir brauchen Mut zum Scheitern, Selbstüberwindung und Offenheit. Vor allem auch Opferbereitschaft. Wir müssen umdenken, Stagnationen umschiffen und immer wieder aufstehen, wenn wir umfallen.
Der Schrei nach mehr Geld, nach viel mehr Geld und nach viel mehr fachlich versierten Lehrkräften ist absolut notwendig. Das ist eine Großbaustelle!
Plötzlich Rückenprobleme
Auch ich muss mich noch viel mehr bewegen, trotz bereits langanhaltender Atemlosigkeit. Indem ich meine Tochter eine Förderschule besuchen lasse, habe ich wieder ein wenig Zeit zum Luftholen gefunden. In der Förderschule wird sie gemocht, gefördert und geschätzt. In einem geschützten Raum lernt sie alltagstaugliche Dinge. Das ist viel wert. Meine Tochter hatte bisher immer tolle Lehrerinnen. Ihnen verdanken wir, dass Lottes kognitive Fähigkeiten ans Licht gekommen sind. Vielleicht würde ich sonst immer noch im Dunkeln tappen. Wer weiß das schon. Trotzdem habe ich das Gefühl, mich in dieser Sondernische vom täglichen Kampf um Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, um Gleichberechtigung und um Anerkennung auszuruhen. Ich finde das legitim und auch wieder nicht. Denn hier lauert die Resignation. Einerseits wird meine Tochter in der Förderschule nicht ausreichend auf das wahre Leben vorbereitet, andererseits mangelt es der Gesellschaft dadurch an Erfahrbarkeit von Vielfalt. Kein Wunder, dass die meisten Menschen Rückenprobleme und Berührungsängste haben, wenn ich mit Lotte in U-Bahn-Schächten zurückbleibe, weil der Fahrstuhl defekt ist und die Stufen für mich und Lotte alleine nicht zu bewältigen sind.
Eine körperliche oder mentale Einschränkung wird erst durch bauliche, soziale oder kulturelle Barrieren zu einer Behinderung. Diese Mauern müssen wir täglich einreißen. Ich. Du. Und die Politik.
„Wer Inklusion will, findet Wege, wer sie verhindern will, sucht Begründungen.“ Dieses Zitat stammt von Hubert Hüppe, dem ehemaligen Beauftragten der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen.
Der Artikel erschien zuerst am 22. Mai 2017 auf zeit online.
Julia Latscha ist Gründerin und Vorständin der Stiftung Bildung. Gemeinsam mit dem Team setzt sie sich für Partizipation und Vielfalt in der Bildung ein. Ihr gerade erschienenes Buch „Lauthalsleben. Von Lotte, dem Anderssein und meiner Suche nach einer gemeinsamen Welt“ (Knaur) ist Anlass für uns, das Thema Inklusion intensiver zu bearbeiten.
Julia Latscha liest gerne aus ihrem Buch und diskutiert mit Interessierten über die Chancen einer Gesellschaft, die aus Verschiedenheit Kraft schöpft und Anderssein als Potential begreift.