(K)eine Mauer im Kopf?

Artikel von Leonie Urbanczyk

Rückblick: Es ist Mitte September, ich öffne Google Maps auf meinem Handy und tippe ein: „Naumburg (Saale)“. Ich habe zu dem Zeitpunkt keine Ahnung wo der Veranstaltungsort der diesjährigen youcoN liegt. Nach dem die Karte bei Google Maps schärfer geworden ist, sehe ich erst einmal nur Grün.

Ich zoome raus und meine Augen wandern über die Karte auf der Suche nach größeren Städten in der Umgebung, langsam tauchen Namen auf, die ich kenne: Gera, Jena, Weimar und weiter oben rechts im Bild dann Leipzig. „Ah, im Osten, mal schauen wie ich da überhaupt hinkomme”. Es war tatsächlich mein erster Gedanke und im Nachhinein fällt mir nun auf, dass ich eine Mauer im Kopf habe. Eine Mauer, weil ich sonst nichts mit „dem Osten“ zutun habe.

Nun bin ich also in Naumburg: Eine Stadt mit knapp 35.000 Einwohner:innen, einem UNESCO-Welterbe (dem Naumburger Dom) und im Süden von Sachsen-Anhalt. Über die Mauer im Kopf spricht auch Anna in dem Workshop Ungleichheiten und Vorurteile zwischen Ost- und Westdeutschland. Ich fange an zuzuhören.

Anna ist in Cottbus aufgewachsen und war in der Kindheit „das kleine nervige Kind“.  So habe sich der Großvater immer anhören müssen, dass es doch keine Unterschiede zwischen „dem Osten“ und „dem Westen“ mehr gäbe. Anna hat sich als gesamtdeutsch verstanden, schließlich sei das auch in der Schule gelehrt worden. Doch mit dem Umzug nach Freiburg zum Studieren und damit raus aus dem Osten, musste die youcoN-Teamer:in sich eingestehen, dass der Opa wohl Recht hatte:

Es gibt Unterschiede zwischen Ost und West.

Diese Erfahrung bestätigen auch die Teilnehmenden, einige stammen selbst aus dem Osten und nicken zustimmend bei den Erzählungen von Anna. Die andere Hälfte kommt aus dem Westen, hier weichen die Eindrücke voneinander ab. „Der Osten“ wurde zwar in der Schule als Thema behandelt, aber eher die DDR und weniger die aktuellen Probleme. Irgendwie fühle ich mich in dem Moment erleichtert, ich bin also nicht die Einzige, bei der in der Lebensrealität „der Osten“ nicht immer präsent ist. Anna möchte nun wissen, was die Teilnehmenden mit der DDR, Ostdeutschland und Westdeutschland verbinden. Die Namen von Supermarktketten fallen, Spülmittel werden miteinander verglichen und immer wieder ertönt auch ein leichtes Lachen, bei einem Blick auf die notierten Eindrücke:

Drei Plakate liegen auf dem Boden. Sie sind mit der Frage "Was verbindest du mit... der DDR, Ostdeutschland, Westdeutschland?" beschriftet. Darunter finden sich verschiedene Begriffe, die die Teilnehmenden aufgeschrieben haben.
Mind Map zu Begriffen zu den Themen DDR, Ost-Deutschland und West-Deutschland
Foto: Leonie Urbanczyk

Von gesammelten Gedanken hin zu harten Fakten

Ich bin kein:e Historiker:in oder Soziologie:in, es ist meine eigene Geschichte

Damit leitet Anna in den zweiten Teil des Workshops ein. Es gehe um das Herunterbrechen der harten Fakten und ein einziges Mal um das Zusammenfassen der Unterschiede zwischen Ostdeutschland und Westdeutschland. So müssen nun die Teilnehmenden Fragen beantworte. Die Handys werden herausgeholt, der QR-Code eingescannt. Die erste Frage erscheint auf dem dunklem Bildschirm:

Screenshot eines Umfrage-Tools mit der Frage: Wie ist das Vermögen in Deutschland verteilt?
Antwortmöglichkeiten: Westdeutsche haben mehr als doppelt so viel Vermögen wie Ostdeutsche. Das Vermögen ist gleich verteilt. Westdeutsche haben etwas mehr Vermögen als Ostdeutsche.
Screenshot von der Auswertung der Umfrage. Überschrift: Wie ist das Vermögen in Deutschland verteilt?
Richtige Antwort: Westdeutsche haben mehr als doppelt so viel Vermögen wie Ostdeutsche.

Ich klicke auf die erste Antwortmöglichkeit „Westdeutsche haben mehr als doppelt so viel Vermögen wie Ostdeutsche“. Ich kenne die Antwort nicht und doch bin ich mir zu 100 Prozent sicher richtig zu liegen. Diese Erkenntnis, dass ich ohne aus dem Osten zu kommen, dort aktuell zu leben oder mich mit dem Thema zu beschäftigen, die schlechteste Antwort auswähle, ist ernüchternd. Meine Mauer im Kopf ist präsent.

Eine Mauer besprüht mit negativen Schlagzeilen über Ostdeutschland, den hohen Wahlergebnissen der AfD und ein Gefühl doch irgendwie nicht ein gemeinsames Deutschland zu sein. So geht das Quiz nun weiter. Die Menschen in Ostdeutschland verdienen 20 Prozent weniger als im Westen. Von den 16 Bundesminister:innen der derzeitigen Regierung kommen nur zwei aus Ostdeutschland und wie viele Generäle der Bundeswehr kommen aus Ostdeutschland? Richtig: Keiner. Repräsentativ ist etwas anderes.

Doch es gibt auch positive Nachrichten: Der gender pay gap (Männer verdienen mehr als Frauen bei gleicher Qualifikation) ist in Ostdeutschland kleiner als in Westdeutschland. Das Quiz wird immer wieder durch Nachfragen unterbrochen. Die Teilnehmenden möchten in die Tiefe gehen. Wie kann es sein, dass Menschen aus Ostdeutschland auf so vielen höheren Machtpositionen nicht vertreten sind? Um unter anderem dieser Frage auf den Grund zu gehen, liefert Anna im dritten Teil des Workshops einen Input.

Die Geschichte einer Einheit oder einer Übernahme?

Anna geht nun auf die Geschichte ein und verdeutlicht, dass die Wiedervereinigung durch das in Kraft treten des Einigungsvertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der ehemaligen DDR am 3. Oktober 1990 eigentlich keine Wiedervereinigung war. Denn knapp ein Jahr nach dem Mauerfall hätte es laut dem Grundgesetz im Falle einer Wiedervereinigung eine neu aufgesetzte gemeinsame Verfassung geben sollen, stattdessen erfolgte jedoch der Beitritt. Als Begründung nannte die Regierung die fehlende Zeit und einen drohenden wirtschaftlichen Zusammenbruch der DDR. Anna sieht darin einen Grund für das auch noch heute anzutreffende Misstrauen in die Demokratie, seitens der Menschen aus Ostdeutschland.

Neben der damit schon schwierigen Basis sei die Kommunikation ein weitere Faktor für das auseinander fallende Gemeinschaftsgefühl. In den 90er-Jahren haben westdeutsche Beamten, die nach Ostdeutschland gegangen sind, eine so genannte „Buschzulage“ erhalten. Eine Sonderzahlung, deren Begrifflichkeit auf den Kolonialismus im 19. Jahrhundert zurückzuführen ist. Zu Zeiten Bismarcks verstand sich unter dem Begriff eine Zuzahlung an die Beamten, die in die Kolonialländer Afrikas entsandt wurden.

Anna atmet kurz durch, ihr Blick gleitet durch den Raum. Die Teilnehmenden sitzen zurückgelehnt in den Stühlen, es wird nicht geredet und die einzige Unterbrechung sind Verständnisfragen. Ich frage mich was ich damals über die Zeit kurz nach der Wiedervereinigung gelernt habe. Mir kommt es vor, als ob die Zeit rund um Bismarck deutlich präsenter in meinem Kopf ist, als ein Überblick über die Probleme und Strukturen während der Wiedervereinigung von DDR und BRD.

Die falsche Wirtschaft und eine andere Kultur?

Ein Teil der strukturellen Probleme, die sich bis heute hinziehen sei die Treuhand, erklärt Anna. Die Treuhand, eine „Anstalt zur treuhänderischen Verwaltung des Volkseigentums“. Vereinfacht gesagt, ging es darum die Unternehmen aus der DDR von privaten Betrieben zu funktionierenden Kapitalgesellschaften umzubauen. Die Folgen zeigen sich auch noch heute: Von den 500 größten deutschen Unternehmen kommen nur 16 aus dem Osten, 12 davon sind Tochterfirmen westdeutscher oder ausländischer Firmen.

Am Anfang des Workshops fragte Anna die Teilnehmenden wer für sie als „ostdeutsch“ zählt. Die Teilnehmenden benannten eine bestimmte Kultur und Werte die vertreten würden. Doch genau die Kultur wurde den Menschen aus der früheren DDR mit der Wiedervereinigung genommen. Gesammelte Auszeichnungen waren nichts mehr, die Ausbildungen nicht anerkannt „im Westen“ und viele Gebäude wurden abgerissen. Nach Anna seien die Werte, nach denen viele Menschen ihr Leben gelebt haben, nichts mehr wert. Ein Bild zeigt sich auf ihrer Präsentation: die Kosmos-Bar, die aufgrund ihres Baus jedoch Sternchen genannt wurde.

Mehrere Menschen sitzen mit dem Rücken zur Kamera auf Hockern an einer Theke in einem großen, hellen Raum. Die Decke des Gebäudes ist kunstvoll gewölbt.
Quelle: Bundesarchiv Bild 183-L0721-0337, Cottbus, “Kosmos-Bar”, Theke.jpg

Eine Mokka-Milch-Bar die in ihrer Heimatstadt Cottbus in Brandenburg noch bis 2007 stand und trotz des Widerstands in der Bevölkerung, aufgrund von jahrelangem Leerstand, abgerissen wurde. Ich fühle auf einmal eine Betroffenheit, Betroffenheit darüber, dass für Anna ein Teil ihrer Herkunft genommen wurde, den sie noch nicht einmal selbst richtig erleben konnte.

Quelle: http://www.cottbus-chronik.de/detail/sternchen

Anna möchte nun von den Teilnehmenden wissen, was sie sich für die Zukunft wünschen. Es fallen Begriffe wie Vermögensumverteilung, Anerkennung, Respekt, Gemeinschaft und Solidarität. Das Thema der diesjährigen youcoN: Gemeinschaft leben. Solidarisch miteinander. Und mit ganz viel Glück auch das Aufleben der Eisdiele „Sternchen“.
Die abgerissene Eisdiele hat etwas in den Teilnehmenden ausgelöst. Es ist ruhig geworden im Saal und gleichzeitig fühlt es sich im Inneren ganz anders an. Da war ja was: Die Mauer im Kopf. Ich habe das Gefühl, dass meine Mauer bröckelt und vielleicht kann ich sie durch Gespräche und einem gemeinsamen Austausch irgendwann ganz zum Einstürzen bringen.

 

Weitere Quellen:
https://research.uni-leipzig.de/elitenmonitor/wp-content/uploads/2024/09/Bericht-Elitensurvey-2023-Langfassung.pdf

https://www.ostbeauftragter.de/resource/blob/2044590/2224378/59b5ce5f9b473cfd77688e8c94f3ebfd/elitenmonitor-data.pdf?download=1

https://www.hdg.de/lemo/kapitel/deutsche-einheit


Dieser Artikel über die Frage „(K)eine Mauer im Kopf?“ wurde geschrieben von Leonie Urbanczyk. Leonie ist Teil der Jugendredaktion der Jungen Presse e.V.. In ihrem Magazin www.youthmag.de berichtet die Redaktion live von der Jugendkonferenz und stellt uns diesen Beitrag freundlicherweise zur Verfügung. Seit über 70 Jahren setzt sich die Junge Presse ehrenamtlich für medieninteressierte Jugendliche ein und ist einer der größten bundesweit aktiven Jugendmedienverbände. Als Teil der youthmag-Redaktion sammeln die Redakteur*innen erste praktische journalistische Erfahrung und probieren sich so aus.

Unseren Newsletter abonnieren

Immer informiert bleiben