Man könnte es auch Weisheit nennen

Gastbeitrag des Online-Magazins Prinzip Apfelbaum

von Angelika Friedl

Manche Menschen sind nicht nur erfahren, sondern sogar weise. Weisheit hat viel damit zu tun, wie wir mit unseren Lebenserfahrungen umgehen, ob wir verbittern oder stattdessen offen und gelassen bleiben. Was macht weise Menschen aus? Was können wir von ihnen lernen?

Mit der Weisheit ist es so eine Sache, viele fremdeln mit diesem großen Wort. Man muss eine Weile nachdenken, bevor einem jemand einfällt, den man als „weise“ bezeichnen würde: Mahatma Gandhi vielleicht, Mutter Theresa oder der Dalai Lama. Aber jemand, den man persönlich kennt? Ich muss an meine Oma denken. War sie nicht eine Frau, die über eine gewisse Portion Weisheit verfügte?

„Weisheit ist eine seltene und außergewöhnliche Eigenschaft und nur wenigen ist es vergönnt, sie in hohem Maße zu erwerben“, sagt die Psychologin und Weisheitsforscherin Judith Glück von der Universität Klagenfurt. Was macht also weise Menschen aus? Sie haben ein tiefes Wissen über das Leben und können schwierige Probleme in ihrer ganzen Komplexität erfassen. Sie sind in der Lage, ihre Erfahrungen zu reflektieren, um eine gute Lösung zu finden. Sie halten Widersprüche aus und gehen klug mit ihnen um. Und ganz wichtig: Weise Menschen können sich gut in andere einfühlen. Als „mitfühlende Liebe für andere Menschen“, bezeichnet das die amerikanische Soziologin Monika Ardelt.

Auch meine Großmutter hatte was davon. Vor allem ihre Freundlichkeit und Wärme ist mir in Erinnerung. Sie hat versucht, das Beste aus dem nicht immer einfachen Leben mit ihrem Mann zu machen. In den harten Kriegs- und Nachkriegsjahren hat sie ärmeren Menschen Lebensmittel abgegeben. Einige Jahre lang erzog sie mit liebevoller Fürsorge meine Cousine, in einer kleinen Zweizimmerwohnung ohne Bad. Meine Cousine erzählt noch heute, wie gerne sie bei ihr war und wie sehr sie sich zu Hause fühlte.

Der amerikanische Psychologe Michael Levenson von der Universität Oregon sieht den Kern der Weisheit dagegen in Selbsttranszendenz. Vereinfacht gesagt ist das die Fähigkeit, mit sich selbst im Reinen zu sein. Weise Menschen haben keine oder nur noch wenig Selbstbestätigung nötig. Sie können sich und andere akzeptieren und fühlen sich ihnen, ja der ganzen Welt verbunden. Daher fällt es ihnen leichter, die eigene Sterblichkeit anzunehmen. Die Psychologin Judith Glück ist überzeugt: Wir nähern uns der Weisheit an, wenn wir unkontrollierbare Dinge wie zum Beispiel Krankheit oder Tod akzeptieren können.

Weisheit entsteht in schwierigen Lebenssituationen

Glück und ihre Team interviewten in den Jahren 2008 und 2012 knapp 150 Menschen dazu, wie sie mit schwierigen Situationen in ihrem Leben umgingen. Eine Teilnehmerin der Studie hatte ein Kind tot zur Welt gebracht und war selbst bei der Geburt beinahe gestorben. Trotzdem erkannte die Frau, dass das schlimme Ereignis sie in ihrer persönlichen Entwicklung weitergebracht hatte. „Ich habe gelernt, das Leben zu nehmen, wie es ist, mit allen Facetten, und den Tod als Teil des Lebens zu akzeptieren. Ich war selbst schon dem Tode nahe, ich habe keine Angst mehr davor“, beschrieb sie ihre Haltung in der Studie.

Das Eingeständnis von mangelnder Kontrolle kann auch mit positiven Erfahrungen einhergehen. Wer zum Beispiel eigene Kinder hat, erlebt viele schöne Momente, kennt aber genauso die Situationen, in denen einem die Dinge entgleiten. „Das in guter Weise zu akzeptieren, ist sehr weisheitsfördernd. Damit entwickle ich Toleranz für andere und kann ihre Fehler eher akzeptieren“, sagt Glück.

»Ich habe sehr vieles falsch gemacht, aber wo wäre ich, wenn ich das nicht gemacht hätte?«

Weise Menschen stehen den eigenen Fehlern und Schwächen meist gelassener gegenüber. Diese Erkenntnis brachte eine der Teilnehmerinnen der Studie auf den Punkt: „Ich habe sehr vieles falsch gemacht, aber wo wäre ich, wenn ich das nicht gemacht hätte? Ich hab so viel gelernt, und oft ist aus dem Falschen auch etwas Gutes entstanden.“

Weisheit fällt also nicht vom Himmel. Viele Forscher glauben, dass schwierige Situationen ein fruchtbarer Nährboden sind, um Menschen in ihrem Wachstum zu fördern. „Unsere Grundannahme ist“, sagt Judith Glück, „dass die eigentlichen Katalysatoren der Weisheitsentwicklung so genannte kritische Lebensereignisse sind – jene Erfahrungen, die das Leben und Erleben eines Menschen in fundamentaler Weise verändern“.

Weise Menschen können verzeihen

Die Fähigkeit, aus Erfahrungen zu lernen, reicht aber nicht aus. Wir brauchen auch Offenheit und zudem ein tiefes Interesse am Wohlergehen anderer Menschen. Dem südafrikanischen Freiheitskämpfer Nelson Mandela, der fast zwei Jahrzehnte im Gefängnis saß, war es zum Beispiel ein Herzensanliegen, weiße und schwarze Menschen miteinander zu versöhnen. Legendär ist sein Satz „Als ich aus der Zelle durch die Tür in Richtung Freiheit ging, wusste ich, dass ich meine Verbitterung und meinen Hass zurücklassen musste, oder ich würde mein Leben lang gefangen bleiben“. Das kann man sicher weise nennen.

Das gilt auch für Menschen, die anderen die Hand reichen können, selbst wenn sie gerade von ihnen beleidigt oder verletzt wurden. Weise Menschen schaffen es, auch nach schweren Schicksalsschlägen nicht zu verbittern. Meine Großmutter verlor ihren ersten Mann bei einem Unfall. Und das Allerschlimmste: Ihr drittes Kind starb mit zwei Jahren an einer Mittelohrentzündung. Es hat sicherlich Jahre gedauert, bis sie über diese Verluste hinweggekommen ist. Trotzdem war sie für mich immer ein zufriedener Mensch, auch weil sie sich über so viele Dinge freuen konnte.

»Weisheit lässt sich nicht einfach trainieren wie ein paar Tanzschritte, aber bestimmte Verhaltensweise bringen uns weiter.«

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Wir alle würden gerne etwas weiser werden. Einige gute Vorausetzungen dazu tragen wir bereits in unseren Genen, manche Menschen mehr, andere weniger, beispielsweise Offenheit. Und natürlich lässt sich Weisheit nicht trainieren wie ein paar Tanzschritte. Doch bestimmte Verhaltensweisen bringen uns weiter. „Das Wichtigste ist der Austausch mit anderen Menschen“, erklärt die Psychologin Glück. Hier bringt schon ein Gespräch über ein schwieriges Problem – und das Nachdenken darüber – Punkte auf der Weisheitsskala. Das haben die Psychologe*in und Altersforscher*in Ursula Staudinger und Paul Baltes in ihren Studien Anfang 2000 entdeckt. Interessanterweise hilft es sogar schon, wenn man sich ein solches Gespräch nur vorstellt.

Verbundenheit und Mitgefühl lassen sich üben

Gefühle bei sich und anderen wahrzunehmen ist ein weiteres Element. Dazu gehört das, was Expert*innen Emotionsregulation nennen, also der gute Umgang mit Gefühlen. Schon kleine Achtsamkeits- und Entspannungsübungen helfen, um in aufregenden Situationen nicht sofort mit den gewohnten Reflexen zu reagieren. Wo im Körper spüre ich Ärger? In welchen Situationen fangen meine Hände an zu zittern? Welche Menschen und welche Umgebung tun mir gut?

Auch Verbundenheit und Mitgefühl wachsen, umso mehr wir uns mit anderen Menschen beschäftigen. Wir können uns zum Beispiel vorstellen, wie es ist, als obdachlose Frau auf der Straße zu leben. Wir können es uns zu einer neuen Gewohnheit machen, mit anderen zu teilen, großzügig zu sein. Was würde uns fehlen, wenn wir mehr geben würden?

Weisheit ist übrigens nicht mit Glück gleichzusetzen. „Man kann durchaus ein gutes Leben führen, ohne allzu sehr an andere zu denken“, sagt Judith Glück. Und umgekehrt: Wer weise werden will, muss hin und wieder an sein Grenzen stoßen, was uns vielleicht zunächst nicht glücklicher macht. Und meine Oma? Ich weiß nicht, ob die Weisheitsforschenden sie als weise Frau bezeichnen würden. Aber für mich war sie das.

Gastbeitrag des Online-Magazins Prinzip Apfelbaum (Ausgabe No. 16) auf der Grundlage des darin erschienenen Beitrags von Angelika Friedl. Alle Artikel und Ausgaben des Online-Magazins können Sie kostenlos lesen unter: www.das-prinzip-apfelbaum.de

Dies ist ein Gastbeitrag der “Initiative Apfelbaum – mein Erbe tut Gutes“. Die Stiftung Bildung benutzt eine gesellschaftlich bewusst reflektierte Sprache (bspw: mit*, Diskriminierungen vermeidend, Vielfalt der Gesellschaft sichtbar machen u.ä.) in all ihren eigenen Beiträgen, respektiert das Recht am eigenen Wort der*des Autor*in, veröffentlicht auf den eigenen Medien der Stiftung Bildung jedoch nur die der Compliance angepassten Texte.

Fotos: Lorenzo Moschi/Unsplash; InBetween Architects/Unsplash; Johann Siemens/Unsplash

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