Die Politik hat frühzeitig beschlossen, in schnellen Schritten die Schulen in Deutschland zu schließen – von der Grundschule bis zum Gymnasium, den Berufs- und Förderschulen sowie Weiterbildungszentren. Damit ist der Bildungsbetrieb in allen Bereichen des Lebens heruntergefahren worden – die Folgen für die Schülerinnen und Schüler, die ohnehin durch das System benachteiligt sind, sind noch nicht absehbar. Quo vadis Bildungsgerechtigkeit?
Von Marco Splitt und Katja Hintze
Seither heißt es, dass die Schülerinnen und Schüler zu Hause, im elterlichen Umfeld lernen müssen; mit Unterstützung von Eltern und partiell von den Schulen. Homeschooling ist dabei zum neuen Schlagwort geworden, aber mit Homeschooling hat die derzeitige Situation wenig gemeinsam, denn nunmehr werden die jahrelangen Defizite der Digitalisierung im Bildungsbereich sichtbar. Anderseits werden die ohnehin lang kritisierten und existierenden Bildungsungerechtigkeiten ungehemmt zu Tage befördert, ohne aktiv entgegentreten zu können.
Bildungsgerechtigkeit? Der PISA-Schock und seine Folgen
Nach den ersten PISA-Ergebnissen für Deutschland ging ein Ruck durch die deutschen Bildungsinstitutionen. In den Ländern und auf Bundesebene wurden die Ergebnisse kritisch-diskursiv erörtert – mancherorts auch über tiefgreifende Reformen für mehr Bildungsgerechtigkeit nachgedacht. Vom PISA-Schock war vielerorts die Rede und viele beteuerten fortan den Willen zu Änderungen, die angelehnt an die Bildungsgewinner in Skandinavien vollzogen werden sollten.
Zahlreiche Reformen wurden hierzulande angeregt: Mit Themen wie Lebenslanges Lernen und mehr Inklusion, aber auch einer umfangreicheren Pädagogisierung des Lehrkräfteberufs sollten Verbesserungen erzielt werden. Bei allem Reformeifer wurden die zentralen Ergebnisse der Untersuchungen jedoch ignoriert: die Entkoppelung des vielerorts zu engen Zusammenhangs zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg. Tiefgreifende Initiativen wie die Hamburger Schulreform gingen ins Leere; sie scheiterte 2010 in einem Volksentscheid.
Unser Bildungssystem ist sozial ungerecht
In der Ländernotiz der OECD steht für Deutschland: „In Deutschland erzielten die Schülerinnen und Schüler mit günstigem sozioökonomischem Hintergrund beim PISA-Lesekompetenztest 2018 im Schnitt 113 Punkte mehr als die sozioökonomisch benachteiligten Schüler.” Demnach schneiden Kinder aus ärmeren Haushalten im Schnitt also sehr viel schlechter ab als die aus wohlhabenderen Familien.
Dieser Effekt wird durch die Schulschließungen befördert und begünstigt und trifft insbesondere die Schülerinnen und Schüler in der Grundschule besonders hart. Schon jetzt wird deutlich und die Stimmen mehren sich, dass Kinder aus bildungsferneren Haushalten schlechter mit digitalen Endgeräten ausgestattet sind, der einfache und schnelle Zugriff auf Lernplattformen bleibt ihnen so verwehrt. Auch die Hilfe von Privatlehrkräften kann aufgrund finanzieller schlechter Ausstattung nicht in Anspruch genommen werden. Bildungsgerechtigkeit sieht anders aus.
Mehrfacher Bildungsungerechtigkeit entgegenwirken
Im Statement des deutschen Pisa-Konsortiums tritt es offen hervor: „In Deutschland ist der Zusammenhang zwischen der sozialen Herkunft der Jugendlichen und ihrer Lesekompetenz besonders stark ausgeprägt.“ Eine Benachteiligung aufgrund der sozialen Herkunft wird konkret angesprochen.
Weiter heißt es: „Die Lesekompetenz der Schülerinnen und Schüler mit Zuwanderungshintergrund hat sich seit 2009 nicht signifikant verändert. Stärker als in anderen Staaten ist der Zuwanderungshintergrund mit dem sozialen Status verknüpft.“ Die Weichen für einen Systemwechsel wurden bislang nicht gestellt und die Aussichten auf Verbesserungen für mehr Bildungsgerechtigkeit sehen düster aus.
Jedem Kind ein Laptop
Vorschläge wurde zahlreiche unterbreitet, aber aufgrund von politischen Kämpfen wurden nur wenige umgesetzt. Statt zahlreicher Debatten sind Veränderungen notwendig und wichtig, um zu vermeiden, dass wir erneut das Wissen und Können einer Generation von Schülerinnen und Schülern unbetrachtet lassen.
Gerade jetzt ist es wichtig die notwendigen Änderungen aktiv anzugehen: Jedes Kind braucht einen Laptop, um zu Hause zu lernen, mit den Lehrerinnen und Lehrern aktiv zu kommunizieren und Aufgaben zu lösen, um nicht weiterhin die Leistungsunterschiede zu vergrößern. Wir befürchten, dass die schnelle Schulschließung zu unüberschaubaren Folgen für die Schülerinnen und Schüler von morgen werden, denn ein heutiges Leistungsdefizit wirkt sich auf die Schulempfehlung und damit entscheidend auf den weiteren Werdegang unserer Schülerinnen und Schüler aus. Hier muss aktiv entgegengewirkt werden.
Für mehr Bildungsgerechtigkeit: Menschen stärken Menschen
Lobenswerte Projekte wie das Bundesprogramm “Menschen stärken Menschen” des Bundesfamilienministeriums schaffen etwas Abhilfe. Die Stiftung Bildung ist seit Anfang an eine der Organisationen, die das Programm bundesweit umsetzt. Kinder und Jugendliche helfen sich hier gegenseitig in Patenschaften – vor allem dort, wo Eltern wenig unterstützen können, sei es aufgrund von Sprachbarrieren, des Bildungshintergrundes oder anderen Schwierigkeiten. Auch das private Engagement von Menschen in Tausenden Kita- und Schulfördervereinen ist ein Lichtblick für mehr Bildungsgerechtigkeit. Doch viele stehen durch die Corona-Krise vor dem wirschaftlichen Aus.
Zudem: So hilfreich Initiativen wie diese auch sind, sie lösen nicht das strukturelle Benachteiligungsproblem in unserem Bildungssystem. Wir sind überzeugt, dass wir es uns nicht leisten können, das Gold in den Köpfen unserer Kinder ungenutzt zu lassen, denn die Fähigkeiten und Fertigkeiten sind von Geburt an gleich; die Unterschiede gilt es seitens des Bildungssystems auszugleichen. Wir glauben, dass es mehr Mut geben muss, um Bildungsungerechtigkeiten, die systemisch bedingt sind, zu vermeiden.
Die Autor*innen:
Marco Splitt ist Mitglied im Vorstand der Stiftung Bildung. Der studierte Politologe und Historiker hat in Frankreich und Deutschland studiert und arbeitete mehrere Jahre im Deutschen Bundestag, u.a. für die Bundestagspräsidentin a.D. Rita Süssmuth.
Katja Hintze ist Vorstandsvorsitzende und Mitgründerin der Spendenorganisation Stiftung Bildung. Sie hat Philosophie, Kommunikationswissenschaften, Publizistik, Diversity und Wirtschaftsethik studiert und arbeitete viele Jahre als Kooperationsmanagerin in der freien Wirtschaft.
Titelbild: CC0 Public Domain / pxhere