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Bildung für nachhaltige Entwicklung – Ein Kompass im digitalen Wandel unserer Gesellschaft
Die Digitalisierung durchzieht alle Lebensbereiche und Institutionen moderner Gesellschaften und beeinflusst, wie wir leben, arbeiten, kommunizieren und lernen. Dabei verschmelzen digitale und analoge Lebenswelten. Bildungsinstitutionen sowie Bildungsakteurinnen und -akteure stehen vor der Herausforderung, die damit einhergehenden Veränderungsprozesse zu bewältigen. Dies geht mit neuen Kompetenz- und Qualifikationsanforderungen einher. Eine zukunftsfähige Bildung muss Menschen dazu befähigen, den Herausforderungen eigenständig, verantwortungsvoll und kompetent begegnen und die Prozesse der Digitalisierung mitgestalten zu können. Dadurch wird gesellschaftliche Teilhabe gestärkt und Risiken und Zukunftsängsten wird konstruktiv begegnet.
Die Digitalisierung aller Lebensbereiche im Sinne nachhaltiger Entwicklung gestalten zu können setzt den Erwerb von Kompetenzen für eine digitale Welt ebenso voraus wie Kompetenzen, die im Kontext von Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) erworben werden. Dabei lassen sich deutliche Schnittmengen zwischen der Digitalisierung, einer nachhaltigen Transformation der Gesellschaft und BNE erkennen. BNE kann die Kompetenzentwicklung zum Umgang mit digitalen Medien und den Digitalisierungsprozessen fördern. Gleichzeitig eröffnet die Digitalisierung einen neuen Blick auf BNE.
Erforderlich ist eine Verzahnung der Kompetenzen für eine digitalisierte Welt und der Kompetenzen für die nachhaltige Gestaltung der Biosphäre, Gesellschaft und Wirtschaft. Man wird in den Bildungseinrichtungen, im Lernen wie Lehren, in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, in den Curricula sowie in der Aus-, Fort- und Weiterbildung noch intensiver als bisher auf die Konnektivität von Digitalisierung, Nachhaltigkeit, Kompetenzentwicklung, Bildung und Erziehung eingehen müssen.
Daher richten sich die folgenden Empfehlungen an Akteurinnen und Akteure auf allen Ebenen des Bildungssystems und der Kinder- und Jugendhilfe, der Bildungspolitik und -forschung, an alle Bildungseinrichtungen und -träger sowie alle Pädagoginnen und Pädagogen, die sich mit BNE befassen sowie an die Bereiche Softwareentwicklung, digitale Medien und Forschung.
Die in den folgenden Empfehlungen beschriebenen Innovationen sind ohne Bereitstellung von Ressourcen oftmals nicht umzusetzen. Daher sollten die einschlägigen Förderinstitutionen prüfen, ob hierfür Ressourcen bereitgestellt werden können.
Empfehlungen
1. Gesamtinstitutioneller Ansatz als Basis
1.1. Die Befähigung zur nachhaltigen Gestaltung von Digitalisierungsprozessen und die Befassung mit den ökologischen, ökonomischen und sozialen Folgen der Digitalisierung soll ein weiterer Schwerpunkt für BNE sein.
1.2. Hier bietet der Whole Institution Approach (= gesamtinstitutionelle Ansatz) für Bildungseinrichtungen eine angemessene Herangehensweise. Bildungseinrichtungen sollen nicht nur Vorbild bei der Integration von Nachhaltigkeit in Bildungspläne oder Curricula sein. Der Whole Institution Approach besagt, dass die Orte des Lernens, z. B. der Betrieb oder Fort- und Weiterbildungseinrichtungen, mit einer entsprechenden Organisationskultur nachhaltiges Wirtschaften und Handeln vorleben. Bildungseinrichtungen sollten sich zudem verstärkt in den Debatten um die sozialen, ökologischen und ökonomischen Chancen und Risiken der Digitalisierung verorten.
1.3. Dabei ist der kommunale und regionale Bezug von besonderer Bedeutung. Die Akteurinnen und Akteure in den lokalen bzw. regionalen Bildungslandschaften sollten in die Lage versetzt werden, die digitalen Zugangs- und Vermittlungswege zu optimieren und auszubauen.
2. Digitale Kompetenzen durch und für BNE
2.1. Dass die für das Leben in der digitalen Welt notwendigen Kompetenzen auch für BNE erforderlich sind und durch BNE – wie auch durch andere Lern- und Handlungsfelder (z.B. den MINT-Fächern und Berufen) – mit befördert werden können, ist evident. Jedoch reicht die Verschränkung von BNE mit den Prozessen der Digitalisierung und den digitalen Kompetenzen deutlich darüber hinaus:
- Erstens gehört zu den „Kompetenzen in der digitalen Welt“ (KMK) die Auseinandersetzung mit den ökologischen und sozialen Folgen der Digitalisierung. Dies ist genuines Feld von BNE. Denn die Nutzung von Informationstechnik ist aus ökologischer und gesellschaftlicher Sicht nicht nur mit Chancen, sondern auch mit Risiken verbunden: Energie- und Ressourcenverbrauch führen zu Belastungen der Umwelt; Fake News, Hass und Rassismus im Netz verschlimmern soziale und gesellschaftliche Probleme. Aus der Perspektive nachhaltiger Entwicklung und der BNE müssen die Gemeinwohlorientierung der Digitalisierung, die Gewährleistung substanzieller Teilhabe an der digitalisierten Lebens- und Arbeitswelt und die individuelle Entfaltungsfreiheit thematisiert werden. Darüber hinaus muss die Befähigung zur sachangemessenen Intervention vermittelt werden. (PDF-Datei)
- Zweitens stützt sich die Nachhaltigkeitswissenschaft als Bezugsdisziplin von BNE in ihren Analysen und Empfehlungen auf Computersimulationen und die digitale Verarbeitung großer Datenmengen, die aus der Beobachtung und Modellierung der sozialen wie natürlichen Umwelt (etwa durch Sensornetzwerke, Langzeitobservationen und Satellitendaten; durch die Modellierung von nachhaltigem Konsum, Verkehr und nachhaltiger Energienutzung) resultieren. Dies hat für BNE zur Konsequenz, dass auch sie sich in ihren Themen, Erkenntnissen, Simulationen und Zukunftsentwürfen auf digital verfügbares und produziertes, komplexes Wissen bezieht. Den Erkenntnissen der Nachhaltigkeitswissenschaft folgend Informationen zu suchen, zu filtern, auszuwerten und zu bewerten, dabei mit anderen zusammenzuarbeiten und selbst Informationen zu produzieren sowie Algorithmen zu erkennen – diese u.v.a. digitalen Kompetenzen sind für BNE unverzichtbar und über sie exemplarisch zu erwerben.
- Drittens ist in Nachhaltigkeitsforschung und Nachhaltigkeitsdiskurs der Zukunftsbezug zentral. So bezieht man sich auf langfristige Trends in der Entwicklung der Biosphäre, von Gesellschaft und Wirtschaft, auf deren Anpassungsfähigkeit, Verwundbarkeit und Resilienz und sondiert, wie Gesellschaft und Wirtschaft in Richtung eines nachhaltigen Wandels transformiert werden können. Diese Transformation setzt die Fähigkeit voraus, auf der Grundlage von Wissen selbsttätig wie kollaborativ zu handeln, systemisch zu denken und vorausschauend zu planen. Nötig ist auch eine kritisch-konstruktive Nutzung von Vorstellungen, Konzepten und Technologien nachhaltiger Entwicklung. Diese Kompetenzen sollten im Bildungssystem vermittelt werden, in BNE sind sie bereits angelegt.
2.2. Bei der Fortschreibung der Bildungs- und Rahmenpläne sowie der Studienordnungen, aber auch bei der Formulierung von Bildungsangeboten freier und öffentlicher Träger, sollte eine Verknüpfung des Kompetenzkonzeptes der BNE mit den digitalen Kompetenzen erfolgen.
2.3. Da digitale wie nachhaltigkeitsorientierte Kompetenzen eng mit dem Erwerb der Fähigkeit zur nachhaltigen Transformation der Gesellschaft auf lokaler, nationaler wie globaler Eben verbunden sind, sollten enge Bezüge zur Lebens- und Arbeitswelt im Rahmen des Lernens hergestellt werden. Darum ist es wichtig, dass sich Institutionen der Bildung, der Zivilgesellschaft und der Wirtschaft im Rahmen der vorhandenen BNE-Gremien über die Bedeutung und Aufgaben von BNE im Kontext des Prozesses der fortschreitenden Digitalisierung austauschen.
2.4. Mit Bezug auf die „ESD for 2030 Strategie“ der UNESCO (PDF-Datei) und Punkt 2.1. wird dafür plädiert, Multiperspektivität, systemisches Denken, Kreativität und Antizipation fördernde digitale Medien didaktisch angepasst auch in der Umsetzung von BNE zu nutzen. Dabei ist der Zugang zur Soft- und Hardware sowie zu Lehr- und Lernmaterialien für alle Nutzerinnen und Nutzer sicherzustellen.
2.5. Das Lernen mit digitalen Medien ist dann fruchtbar, wenn es durch geeignete unterstützende Lernkulturen befördert wird. Hier bietet BNE Ansätze und Lösungen. Denn BNE ist dafür konzipiert, Transformationsprozesse zu verstehen und zu gestalten. Das kann auch dabei weiterhelfen, Prozesse der Digitalisierung zu verstehen und aktiv im Sinne der Gesellschaft zu gestalten. Es wird angeregt, die jeweilige Lernkultur der einzelnen Bildungsbereiche daran auszurichten und neue Erfahrungs-, Partizipations- und Reflexionsräume zu bieten.
2.6. Die mit der Digitalisierung einhergehenden Veränderungen von Kommunikations- und Informationsprozessen stellen Lernende vor besondere Herausforderungen im Umgang mit Informationen. Lernende müssen im Rahmen des Erwerbs von Medienkompetenz nicht nur darin unterstützt werden, mit Informationen kritisch und reflektiert umzugehen – es sind auch die unter 2.1 genannten Kompetenzen und Zusammenhänge zwischen Digitalisierung, nachhaltiger Entwicklung und Nachhaltigkeitswissenschaft zu berücksichtigen. Hier eigene Positionen zu entwickeln und diese zu vertreten ist individuell wie gesellschaftlich bedeutsam. Das setzt entsprechende methodische sowie didaktische Kompetenzen und Fachwissen unter den Erziehenden wie Lehrenden, Jugendarbeiterinnen und -arbeitern sowie allen anderen Bildungsakteurinnen und -akteuren voraus. Gezielte Fort- und Weiterbildungen in diesem Bereich sind auszubauen.
2.7. Die von der Berlin Declaration 2021 (PDF-Datei) geforderte „fundamentale Transformation“ auf globaler Ebene kann nur durch verstärkte Kooperation und Vernetzung auf allen Ebenen erreicht werden. Für die weltweite Vernetzung von Bildungsakteurinnen und -akteuren und das Globale Lernen bietet die Digitalisierung der Bildung eine noch nie dagewesene Chance zu Austausch und wechselseitigen Lernprozessen auf Augenhöhe. Bei der Entwicklung neuer und der verstärkten Anwendung bestehender digitaler Formate ist deshalb auf die Möglichkeiten einer eventuellen Anwendbarkeit für transnationale Lernprozesse zu achten.
3. Digitale Medien für BNE
3.1. Digitale Medien für BNE sind auf dem Markt in zahlreicher Form schon ab der frühen Bildung vorhanden. In diesem Zusammenhang sollte sondiert werden, welche bereits etablierten Lernplattformen, Materialdatenbanken bzw. Lern-Management-Systeme (LMS) existieren und notwendig sind, die speziell dem Erstellen, dem Austausch und der Kommunikation über digitale Medien für BNE dienen. Auch ist eine Vernetzung dieser Anbieter zu empfehlen. Es sollte geprüft werden, ob eine Systematisierung, Bewertung und Verfügbarmachung bereits vorhandener und neu entwickelter digitaler Medien, etwa durch Schnittstellen zwischen Materialdatenbanken etc., sinnvoll erscheint. Dabei sollten Doppelstrukturen durch Zusammenschlüsse in Netzwerken vermieden werden. Grundlage sollte die Entwicklung einheitlicher Qualitätsstandards sein, die von allen Anbietern (etwa in Form einer Selbstverpflichtung) umgesetzt werden.
Auch wäre zu sondieren, ob verstärkt Angebote als Open Educational Resources (OER), Creative Commons oder als Offene Software bereitgestellt werden können.
3.2. Nicht zuletzt aufgrund der zahlreich kursierenden falschen Informationen über (nicht) nachhaltige Entwicklungen ist zu klären, welche Kriterien für die Qualität von Lernplattformen – etwa in Form von Selbstverpflichtungen oder einem Gütesiegel – gelten können.
3.3. Soweit Medienangebote identifiziert werden, die den BNE-Anforderungen nicht entsprechen oder Lücken aufscheinen, liegt es nahe, diese zu schließen. Gegen die Verbreitung von Falschinformationen müssen Richtigstellungen erfolgen. Zusätzlich sollte verstärkt Augenmerk auf Inhalte, Methoden und Materialien gelegt werden, die sich mit Themen der digitalen Nachhaltigkeit beschäftigen, wie zum Beispiel Green-IT, Suffizienz im Bereich der Medienherstellung, -nutzung und -entsorgung, Industrie 4.0, Smart Everything, digitaler Konsum, digitaler Lebensstil, digitales Wohlbefinden (digital well-being) und durch Digitalisierung produzierte und reproduzierte soziale Ungleichheiten.
3.4. Mit der Entwicklung von digitalen Medien befasste Einrichtungen und Organisationen aller Bildungsbereiche sollten darin unterstützt werden, sachangemessene, vertrauenswürdige Medienangebote zu unterbreiten. Bei der Entwicklung von digitalisierten Lernmedien sollten etwa zielgruppenspezifische Instrumente zur Anwendung kommen. Fördernde Institutionen sollten prüfen, in welchem Maße dafür Ressourcen bereitgestellt werden können.
4. Aus-, Fort- und Weiterbildung
4.1. Nach wie vor ist generell ein Bedarf in der Aus-, Fort- und Weiterbildung von Lehrenden, Erzieherinnen und Erziehern, Jugendarbeiterinnen und -arbeitern sowie generell von Bildungsakteurinnen und -akteuren in Bezug auf BNE festzustellen. Es wird empfohlen, die Auseinandersetzung mit den ökologischen, ökonomischen und sozialen Potentialen und Limitierungen der Digitalisierung ebenso wie den Bezug zu den Erkenntnisformen der Nachhaltigkeitswissenschaft verstärkt in die Aus-, Fort- und Weiterbildung zu digital gestütztem Lehren und Lernen zu integrieren. Die pädagogischen Landesinstitute, Hochschulen und andere Bildungsträger haben hier eine besondere Verantwortung. Dort vorhandene Strukturen sind weiter zu stärken, auszubauen und zu verzahnen.
4.2. Zwecks Umsetzung der hier formulierten Empfehlungen sollte die modellhafte Entwicklung und Erprobung von Fort- und Weiterbildungsangeboten in diesem Bereich ausgebaut werden. Dabei wäre zu berücksichtigen, dass diese Angebote den Bedürfnissen der Lernenden mit ihren jeweils unterschiedlichen Anforderungen bezogen auf die Nutzung digitaler Medien entsprechen müssen.
5. Forschung und Monitoring
5.1. Forschungsergebnisse zum Verhältnis von Digitalisierung und BNE sind bisher nur vereinzelt vorhanden. Es ist zu prüfen, inwieweit Forschungsansätze hier gestärkt und mit Ressourcen hinterlegt werden können.
5.2. Es wird empfohlen, im Kontext des Monitorings der nationalen Umsetzung von BNE 2030 auf der Grundlage zentraler Dokumente einen Report über die Fortschritte der Verknüpfung von BNE und Digitalisierung zu verfassen.
6. Von den Empfehlungen zur Strategie
6.1. Es wird vorgeschlagen, dass die Foren im Rahmen des nationalen BNE-Prozesses (BNE-Foren) für die jeweiligen Bildungsbereiche konkretisierte Strategien zur Verknüpfung von Nachhaltigkeit, Digitalisierung und BNE entwickeln bzw. bestehende Ansätze fortschreiben und ihre Umsetzung begleiten.
6.2. Die hier benannten Empfehlungen und von Seiten der BNE-Foren im Folgenden konkretisierten Strategien für die jeweiligen Bildungsbereiche sollen als Ausgangspunkt genutzt werden, um die Verbindung zwischen BNE, Nachhaltigkeitsdiskurs und -wissenschaft sowie Digitalisierung auch in der Fortschreibung des Nationalen Aktionsplans BNE zu nutzen.
Das Positionspapier der Nationalen Plattform ist in der Arbeitsgruppe „BNE und Digitalisierung“ entstanden, die im August 2020 von der Nationalen Plattform Bildung für nachhaltige Entwicklung eingesetzt wurde.