Auch wenn sie nicht wählen dürfen: Bei der Bildung sollten Kinder mitreden
Rainald Manthe ist Mitglied des Kuratoriums der Stiftung Bildung. In „Der Freitag“ schreibt er über die Beteiligung von Kindern- und Jugendlichen in der Bildungspolitik, einem Kernanliegen der Stiftung Bildung.
Gerade war es beim Brexit wieder ein Thema: das Wahlrecht für Minderjährige. Hierzulande macht sich die „Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen“ (SRzG) für mehr Generationengerechtigkeit stark – auch in politischen Prozessen. Studenten hatten die parteiunabhängige SRzG 1997 gegründet. Einer ihrer Vorstöße führte sie bis vor das Bundesverfassungsgericht: Dort hat die Stiftung die Bundestagswahl von 2013 angefochten, mit der Begründung, dass 13 Millionen Staatsbürger unter 18 Jahren von den Wahlen ausgeschlossen waren. Die Stiftung fordert: Wahlrecht für alle, die wählen wollen. Anmeldung genügt.
Die Klage wurde abgewiesen. Das Gericht sah in einem Mindestwahlalter keinen Verstoß gegen Gleichheits- und Demokratiegrundsätze. Damit bestätigten die Juristen eine verbreitete Sicht: Junge Menschen sind keine vollwertigen Mitglieder der Gesellschaft, sondern Lernende, die geführt und angeleitet werden müssen. Dass die Klage auch von Kindern selbst initiiert war, irritierte die Verfassungsrichter nicht.
So ist es auch in der Bildungspolitik: Obwohl Kinder und Jugendliche maßgeblich von ihr betroffen sind, gibt es keinen Willen, sie stärker einzubeziehen. Das hat zwei Gründe: einen politischen und einen kulturellen. In der Schulpolitik spielen Schulleiter, Lehrer, Eltern, Verwaltung, Wissenschaft und viele andere eine Rolle. Sie haben unterschiedliche Interessen, die zusammenzubringen Aufgabe von Politik ist. Wie schwierig das ist, zeigen etwa die Konflikte um das dreigliedrige Schulsystem oder den Bildungsplan in Baden-Württemberg. Kinder und Jugendliche einzubeziehen, würde Kompromisse noch schwieriger machen. Eine weitere, nicht heterogene Gruppe mit eigenen Vorstellungen würde mitreden wollen. Und das würde ein ohnehin ideologisch aufgeladenes Politikfeld noch komplexer machen.
Beinahe noch wichtiger: Deutschland ist eine Hierarchiegesellschaft. Menschen, die älter sind oder (mehr) Abschlüsse und Lebenserfahrung haben, gelten als weiser und haben daher mehr zu sagen. Junge Menschen werden als Unfertige betrachtet, ihre eigenen Erfahrungen und Lebenswelten gelten als defizitär. Auch deshalb wird Politik vor allem von „alten weißen Männern“ gemacht, wie es heute oft heißt, wenn das hinzukommende Geschlechter-Bias gleich noch mitthematisiert wird. Solche Männer gelten als die Spitze der Hierarchie. Mit derselben Begründung wurden früher auch andere Gruppen ausgeschlossen, Frauen, Arbeiter, Sklaven. Ihre Emanzipation dauert an.
Während das Argument der Lebenserfahrung in bestimmten Bereichen seine Berechtigung hat – in der Familienpolitik, zum Beispiel, hilft die Erfahrung, selbst Kinder und Job unter einen Hut bringen zu müssen –, ist es in der Bildungspolitik abwegig. Warum sollen junge Menschen, die sich für ihr Umfeld interessieren, dieses nicht mitgestalten? Sie reflektieren es sehr wohl. Und sie haben oft gute Ideen, was sie daran verbessern würden – wenn sie nur jemand ernsthaft fragen würde. Sie könnten in der Schule lernen, was es heißt, ernst genommen zu werden und miteinander Lösungen zu erarbeiten, Kompromisse einzugehen, nicht nur den eigenen Willen durchzusetzen. Ihre Perspektive würde Bildung und Bildungspolitik und unsere Republik nicht nur bereichern. Sie würden auch früh lernen, Demokratie zu leben.
Der Beitrag erschien zuerst in Der Freitag 27/2016 und auf www.freitag.de.
Rainald Manthe ist Soziologie und Aktivist bei Was bildet ihr uns ein? e.V. Er ist Mitglied im Kuratorium der Stiftung Bildung.