„Nur eine vielfältige Welt ist eine stabile Welt“

Gastbeitrag des Online-Magazins Prinzip Apfelbaum

von Birgit Kummer

Klaus Töpfer, 81, ist ein unermüdlicher Kämpfer für den Umwelt- und Klimaschutz. Im Interview erklärt der frühere Umweltminister, warum wir mit einer Wohlstandslüge leben und wie wir im offenen Dialog eine enkeltaugliche Welt gestalten können. Jungen Menschen rät er, nicht im Protest zu verharren, sondern die Zukunft mitzugestalten.

Klaus Töpfer war Umweltminister in der Regierung von Helmut Kohl, Direktor des Umweltprogramms der Vereinten Nationen und gründete das Institute for Advanced Sustainability Studies (IASS) in Potsdam. Nach dem Reaktorunglück von Fukushima leitete er die bundesdeutsche Ethikkommission, die sich mit sicherer Energieversorgung befasste. In einer Welt im Wandel ist der 81-Jährige eine Konstante im Kampf für eine nachhaltige, zukunftsfähige Lebensweise.

Professor Töpfer, Sie haben lange in Nairobi gelebt und gearbeitet, Sie waren Gastprofessor in Shanghai. Sie kennen die Arktis ebenso wie Australien, New York genau wie Moskau. Wie beschreiben Sie unseren Planeten?

Was mich immer wieder beeindruckt, ist die unglaubliche Vielfalt in Natur und Kultur. Eine Vielfalt, die nicht statisch, sondern dynamisch ist. Sie verändert sich spontan und ungeplant. Das macht unsere Erde so spannend und für jeden Lebensentwurf attraktiv. Der Mensch ist ein Teil dieser Vielfalt. Deshalb nutze ich ungern den Begriff Umwelt, denn er suggeriert, dass es um „den Menschen und den Rest“, die ihn umgebende Welt, geht. Doch es geht um mehr.

Wir werden so wie bisher nicht weitermachen können. Wann ist Ihnen das persönlich erstmals bewusst geworden?

Dieser Satz gilt zu allen Zeiten. Jede Generation wird immer wieder zu dem Ergebnis kommen: Es kann so nicht weitergehen. Wir haben das zu unseren Eltern gesagt, die sich auf den Krieg eingelassen, ein Geschehen mitverschuldet haben, das bis heute nachwirkt, und die dann in ein großes Schweigen verfielen. Die Frage „Wie konntet ihr das zulassen?“ stellt sich immer wieder. Unsere Kinder schauen auf uns und stellen sie uns beim Thema Klima und Erderwärmung. Wir können künftige Generationen nicht von der Verantwortung für ihr Leben freistellen, aber wir müssen wenigstens dafür sorgen, dass sie sie wahrnehmen können.

»Wir haben unsere Eltern gefragt: ‚Wie konntet ihr das zulassen?’ Unsere Kinder stellen uns die gleiche Frage beim Thema Klima.«

Die Bewegung „Fridays for Future“ ist also fast zwangsläufig entstanden?

Ich wäre entsetzt und enttäuscht gewesen, wenn die jungen Leute nicht auf die Straße gegangen wären. Sie sind nicht sittsam angepasst, sondern laut und fordernd. Ich habe alle Sympathien dafür. Die Frage ist, wie wir mit dem Protest umgehen. Und ob die jungen Leute im Protest verharren oder ob sie versuchen, gegenzusteuern und die Zukunft mitzugestalten. Überall dort, wo man etwas verändern kann, auch in Parlamenten.

Gab es in Ihrer Jugend ein Aha-Erlebnis, das Sie für Ökologie sensibilisiert hat?

Der Zustand der Flüsse. Sie wurden zu Kloaken, weil Kosten verlagert und Folgen für andere nicht bedacht wurden. Man sah schon damals, dass wir uns in eine Wohlstandslüge hineingesteigert hatten, für die viele Menschen später und weit von uns entfernt bezahlen würden. Inzwischen wissen wir, wie eng alles zusammenhängt und dass Konsequenzen unseres Handelns global auftreten. Egal, wo eine Tonne CO2 ausgestoßen wird, sie betrifft nicht nur diese Region. Menschen können sich auflehnen, diskutieren, protestieren, streiken. Die Natur kann das nicht. Sie streikt jetzt auf ihre Weise.

Sie weisen immer wieder darauf hin, dass der Begriff Klima- und Umweltschutz zu kurz greife. Warum?

Wir gehen in ein neues Erdzeitalter, das Anthropozän! Das Holozän als letztes Naturzeitalter ist vorbei. Der Mensch ist zu einer geologischen Kraft geworden. Sein Handeln prägt die Natur in all ihren Facetten – vom Klima bis zur Artenvielfalt. Es geht um die Organisation der menschlichen Gesellschaft, um Rahmenbedingungen für das künftige Leben auf unserem Planeten. Als ich geboren wurde, lebten 2,5 Milliarden Menschen auf der Erde. Gegenwärtig sind es nahezu acht, bald werden es neun oder zehn Milliarden sein, die eine global vernetzte Welt bewohnen. Diese Herausforderung muss in Angriff genommen werden: eine friedliche Welt für neun Milliarden Menschen.

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Was muss dafür getan werden?

Vielfalt ist die Stellgröße für die Zukunft. Nur eine vielfältige Welt ist eine stabile Welt. Das betrifft Flora und Fauna ebenso wie Staats- und Gesellschaftsformen. Vor einigen Jahren wurde das Wort „alternativlos“ zum Unwort des Jahres gewählt. Diese Entscheidung hat mich sehr nachdenklich gemacht. Wo Alternativen zurückgehen, wo „alternativlos“ akzeptiert wird, verliert die Freiheit. Uniformität birgt Destabilität. Ich möchte nicht die großen Transformationen voranbringen, ich setze auf Vielfältigkeit. Das ist das höchste Gut.

»Wer parlamentarische Demokratie sichern will, muss unterschiedliche Sichtweisen geradezu provozieren.«

Welche Staatsformen werden den Herausforderungen gerecht?

Viele sehen die parlamentarische Demokratie in der Krise. Ich setze mehr denn je auf diese unsere Staatsform. Auf die Frage, wie Zukunft gestaltet werden kann, wenn Nationalstaaten nicht mehr in der Lage sind, ihren Aufgaben gerecht zu werden, antworte ich: durch direkte Partizipation. Durch das Mitwirken vieler Bürgerinnen und Bürger, die im offenen Dialog neue Alternativen denken und darüber entscheiden. Wer parlamentarische Demokratie als Staatsform sichern will, muss unterschiedliche Sichtweisen nicht nur zulassen, sondern sie geradezu provozieren. Und in Kompromissen nicht immer gleich „faule Kompromisse“ sehen. Mechanismen zur Konfliktlösung sind gefragter denn je. In offenen Demokratien Mehrheiten zu bilden, ist eine Herausforderung und eine Chance zugleich und allemal besser, als nach starken Männern oder Frauen zu rufen. Wir sollten auch nicht darauf setzen, dass uns allein neue technologische Lösungen die Zukunft retten.

Wie kann man die Kontrolle behalten?

Durch ordnungsrechtliche Maßnahmen, auch beim Klimaschutz und den Klimazielen. Kein Tag vergeht ohne Berater-Gremien und Kommissionen, die das politische Entscheidungsspektrum erweitern und Vorschläge machen. Am Ende aber müssen Parlamente die Beschlüsse fassen.

Ihr Weg führte Sie über die Ämter als Landes- und Bundesminister bis zu den Vereinten Nationen. War das damals geplant?

Nein, mein beruflicher Lebensweg war mit Zufällen gepflastert. Ich habe sie hoffentlich sinnvoll genutzt. Damals, Ende der 1990er, ging es um ein Gutachten zum Umweltprogramm der Vereinten Nationen in Nairobi, das ich auf Bitten des damaligen UN-Generalsekretärs Kofi Annan als Bundesminister erstellt hatte. Bei der Schlussbesprechung in New York stimmte Kofi Annan meinen Vorschlägen zu. Ich ergänzte: „Jetzt müssen wir eine Persönlichkeit finden, die das in die Hand nimmt und umsetzt.“ Und er entgegnete: „Die sitzt schon hier am Tisch.“ – Ich war fast 60 Jahre alt, das hatte ich nicht im Ansatz in der Lebensplanung.

Sie gingen für acht Jahre nach Afrika. Hat Sie diese Zeit verändert?

Diese Jahre haben mich beeindruckt, sie haben vieles bis dahin Gedachte relativiert. Und sie haben mich radikaler werden lassen. Einschneidende Selbsterkenntnis inklusive. Eine afrikanische Umwelt- und Energieministerin sagte einmal zu mir: „Ihr Europäer erklärt uns immer, was wir nicht tun sollen. Aber was können wir tun?“ Statt unsere sogenannten Segnungen nach Afrika zu bringen, muss es darum gehen, Arbeitsplätze zu schaffen, dem Kontinent Zugang zu den eigenen Ressourcen zu ermöglichen und globalisierungs- und demokratiefähige Technologien zu entwickeln. Wir können nicht hiesige Maßstäbe an die dortige Landwirtschaft anlegen, sondern müssen den zahllosen Kleinbauern helfen, effizient zu produzieren. In Deutschland arbeiten zwei Prozent der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft, in Afrika sind es 50 Prozent.

»25 Prozent der Weltbevölkerung haben den jetzigen Zustand des Planeten zu verantworten. Ausbaden müssen es alle Menschen.«

Was war das Spannendste an der Arbeit als UN-Umweltdirektor?

Der andere, der weite Blick. Und die Erkenntnis, wie wichtig es ist, Verantwortung zu übernehmen. Wäre ich in Deutschland geblieben, wäre mir diese konkrete Perspektive der Globalisierung kaum so greifbar geworden. Ein Beispiel: FCKW und das Ozonloch. Wir in Europa haben die negativen Konsequenzen dieser Chemikalie auf andere abgewälzt. Die Ozonschicht ging dort kaputt, wo Menschen lebten, die am wenigsten dafür verantwortlich waren. Immer wieder stieß ich auf die Lebenslüge vom Wohlstand, der in Wirklichkeit keiner ist, weil er von anderen mitbezahlt werden muss. 25 Prozent der Weltbevölkerung, die hochentwickelten Industrieländer, haben den jetzigen Zustand des Planeten, den Klimawandel hauptsächlich zu verantworten. Ausbaden müssen es alle Menschen dieser Welt, vor allem aber in Afrika und Indien.

Der Klimawandel zwingt uns zu Konsequenzen in der Energiepolitik und bei der Nutzung von Ressourcen. Wie bewerten Sie die globale Rolle, die Deutschland dabei spielt?

Die wichtigste Maßnahme war, dass wir Solarenergie globalisierungsfähig gemacht haben. Die Energiewende läuft. Ich sehe mit Grauen, dass wieder Rufe nach der Nutzung von Kernenergie laut werden.

Der Atomausstieg bis 2022 und der Kohleausstieg bis 2038 sind beschlossene Sache. Und doch gibt es Kritik, zum Beispiel von einigen Mitgliedern der Kohlekommission. Ist sie berechtigt?

Eindeutig ja. Kritik muss möglich sein, sie ist ein Regulativ, sie hilft allen, sich weiterzuentwickeln. Mein Rat: zuhören, nachdenken, was damit anfangen.

»Voraussetzung für jede Entwicklung ist der Willen, Konflikte friedlich zu lösen. Und da haben wir immensen Nachholbedarf.«

Haben Sie eine Lebensmaxime, die Sie durch die Zeiten begleitet hat?

An Rilkes Zeilen hatte ich stets Freude: „Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen, die sich über die Dinge ziehn. Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen, aber versuchen will ich ihn.“ Und ich schätze den spanischen Aufklärer und Moraltheologen Balthasar Gracian. 1647 schrieb er im Buch „Handorakel und Kunst der Weltklugheit“: „Die Festigkeit gehört in den Willen, nicht in den Verstand“. Mich haben immer Menschen beeindruckt, die nicht stur auf eine Richtung festgelegt waren, sondern die auf Einsicht und Wandel setzten.

Was bedeutet für Sie eine enkeltaugliche Welt?

Kommenden Generationen die Fähigkeit zu geben, ein Leben nach ihren Werten und Träumen frei zu gestalten.

Sie haben selbst drei Kinder und mehrere Enkel. Was für eine Zukunft werden sie erleben?

Ich bin optimistisch und sorgenvoll zugleich. Ich hoffe darauf, dass sie genau wie wir Hoffnungen und Ziele formulieren und mit Kraft daran gehen, diese umzusetzen. Dass sie Entscheidungswege finden, an die wir noch gar nicht gedacht haben. Dass sie offen sind für Fehler und dass sie sich klarmachen, dass jede Entscheidung risikobehaftet ist. Einen anderen Weg gibt es nicht. Die Voraussetzung für jedwede künftige Entwicklung ist das friedliche Zusammenleben, ist der Willen, Konflikte auf friedliche Weise zu lösen. Und da haben wir immensen Nachholbedarf.

Gastbeitrag des Online-Magazins Prinzip Apfelbaum (Ausgabe No. 11) auf der Grundlage des darin erschienenen Gesprächs von Birgit Kummer mit Prof. Klaus Töpfer. Alle Artikel und Ausgaben des Online-Magazins können Sie kostenlos lesen unter: www.das-prinzip-apfelbaum.de

Dies ist ein Gastbeitrag der “Initiative Apfelbaum – mein Erbe tut Gutes“. Die Stiftung Bildung benutzt eine gesellschaftlich bewusst reflektierte Sprache (bspw: mit*, Diskriminierungen vermeidend, Vielfalt der Gesellschaft sichtbar machen u.ä.) in all ihren eigenen Beiträgen, respektiert das Recht am eigenen Wort der*des Autor*in, veröffentlicht auf den eigenen Medien der Stiftung Bildung jedoch nur die der Compliance angepassten Texte.

Fotos: Pexels/Pixabay; Melissa Bradley/Unsplash; Kyle Glenn/Unsplash; Matthew TenBruggencate/Unsplash

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