Zurückschauen, Zufriedenheit gewinnen

Gastbeitrag des Online-Magazins Prinzip Apfelbaum

Mit dem Älterwerden kommt für viele die Zeit, zurückzuschauen. Das hat etwas Gutes. Mit der richtigen Technik gelingt nicht nur die Lebensbilanz. Sie macht auch den Blick frei für das, was noch kommt – Zufriedenheit.

Da ist ein Anfang. Und noch kein Ende. Aber eine Menge Geschichte. Wir haben eine Ausbildung begonnen, sind in eine andere Stadt gezogen. Wir haben gefeiert und noch mehr gearbeitet. Wir haben uns verliebt, gestritten, versöhnt, getrennt. Die Liste ließe sich beliebig fortführen. Unsere Vergangenheit ist angefüllt mit Erlebnissen und Begegnungen, Erfolgen, Niederlagen, Entscheidungen und unerwarteten Wendungen. Kommt erst der Ruhestand stellt so manche*r fest: Nicht alle Träume sind verwirklicht, nicht alle Ziele erreicht, nicht immer sind wir mit unseren Lieben und unserem Leben versöhnt. Beste Zeit, um ehrlich Bilanz zu ziehen! Denn im Vergangenen lässt sich auch der Schlüssel für das finden, was noch kommt.

Ein neuer Blick auf verschlungene Lebenswege hilft, den roten Faden zu erkennen.

Wer bin ich? Was treibt mich an? Was will ich noch erreichen? Diese Fragen beschäftigen uns alle in jedem Lebensabschnitt aufs Neue. Der Markt für Coaching und Selbstoptimierung boomt nicht ohne Grund. Auch Ratgeber- und Wellness-Magazine überschlagen sich mit Tipps und Anleitungen. Die Versprechen auf Glück und ein gelungenes Leben sind verlockend. Aber: Um zurückzuschauen und Zufriedenheit zu gewinnen, brauchen Sie keinen Coach. Nur eine Methode. Biografiearbeit nennen es Fachleute. Und auch wenn das nach Anstrengung klingt, es kann sich lohnen – und jede Menge Freude bereiten.

Bilanz ziehen – und nach vorne schauen

Geprägt hat das Konzept der amerikanische Mediziner und Gerontologe Robert Neil Butler (1927–2010). Er erkannte, dass eine Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit dabei helfen kann, einen roten Faden zu finden und Zufriedenheit zu gewinnen. Scheinbar nicht zusammenhängende Erlebnisse fügen sich plötzlich zu einem sinnvollen Ganzen zusammen. Das Leben wird in Motivationen gesehen, die uns einzigartig machen: Warum sind wir so, wie wir sind? Warum haben wir so und nicht anders entschieden? Warum wir in einem netten Dorf und nicht in der Stadt leben. Warum wir im Urlaub lieber an die Ostsee statt nach New York reisen. Warum wir lieber in Kunst statt in VW-Aktien investieren. Oder eben genau anders herum.

Das Durchleuchten der eigenen Biografie ist ein konkretes Erleben, das uns zu Entscheidungen führen kann.

Das Interessante daran: Der Blick zurück konserviert nicht etwa die Vergangenheit. Er ermöglicht eine freie Sicht in die Zukunft. Die Diplom-Psychologin und Familientherapeutin Irmela Wiemann, die zahlreiche Bücher und Fachtexte zum Thema veröffentlicht hat, erklärt es so: „Im Grunde geht es darum, für sich Bilanz zu ziehen: Was habe ich in meinem Leben erreicht? Was ist noch offen? Was möchte ich noch erleben? Was möchte ich noch alles in diesem einen Leben bewirken? Wie kann ich möglicherweise Spuren hinterlassen, wenn es mich nicht mehr gibt? Und wie kann ich das realisieren?“ So ist das Durchleuchten der eigenen Biografie kein abstraktes Gedankenspiel, sondern ein konkretes Erleben, das uns zu Entscheidungen führen kann. Diese Entscheidungen können etwas bewirken, in unserem Leben wie auch in dem unserer Mitmenschen.

Mit der richtigen Technik gelingt die Lebensbilanz

Wie findet man nun die Lebensfäden der eigenen Biografie? Wie verwebt man sie zu einem aussagekräftigen Ganzen? Zum Glück gibt es zahlreiche erprobte Techniken. Sie können auf den Dachboden gehen und in Kartons kramen, Freund*innen besuchen und über verflossene Liebschaften sinnieren. Sie können kreativ werden, einen Stift zur Hand nehmen und sich selbst malen. Wer lieber am Computer werkelt, kann eine Website über sein Leben gestalten und nebenbei endlich einmal die vielen gedruckten Fotos einscannen. Jedes Bild erzählt seine Geschichte. Oder aber sie beantworten Marcel Prousts berühmten Fragebogen. Ganz sicher: Sie werden Details erkennen, die Sie bisher so nie gesehen haben.

Eine Zeitleiste hilft, den roten Faden zu finden

Fachautoren wie Hubert Klingenberger oder Hans Georg Ruhe raten zu einer besondere Art der Visualisierung: zur Erstellung einer Zeitleiste, die die Muster der eigenen Biografie offenbart. Dafür brauchen Sie ein großes Papier, drei unterschiedliche farbige Marker und Buntstifte. Schon kann es losgehen.

Eine Zeitleiste erstellen

  1. Ziehen Sie eine waagerechte Linie am oberen Rand des Papiers. Das ist Ihre Lebenslinie. Sie stellt wichtige Stationen in Ihrem Leben dar, beginnt in Ihrer Kindheit und reicht hinaus in die Zeit, die noch vor Ihnen liegt. Unterteilen Sie diese Linie in Lebensabschnitte, am besten in Dekaden. Darunter gliedern Sie das gesamte Blatt ebenfalls waagerecht in die drei Bereiche „Privat“, „Beruf“ und „Ich“.
  2. Widmen Sie sich nun den privaten und den beruflichen Stationen. Zum „Privaten“ zählen Freundschaften, Beziehungen und Hochzeiten genau wie Trennung, Todesfälle und Schicksalsschläge. Dazu Umzüge, wichtige Reisen, Krisenzeiten. Beim Abschnitt „Beruf“ beginnen Sie mit der Schule. Es folgen Ausbildung und erste Jobs, Beförderungen und Kündigungen. Auch Elternzeit, Ehrenamt oder Arbeitslosigkeit gehören dazu.
  3. Der wichtigste Teil folgt zum Schluss: das „Ich“. Schauen Sie sich dazu Ihre bisherigen Aufzeichnungen an. Fragen Sie sich: Wann ging es Ihnen gut, wann weniger? Wann kam der Erfolg, wann die Niederlagen? Wobei haben Ihnen Ihre Fähigkeiten genutzt? Was hat Ihnen geholfen, schwierige Zeiten durchzustehen? Wann haben Sie Ihr Talent voll entfalten können? Welche Wünsche mussten Sie unterdrücken und woran wurden Sie gehindert? Welche Werte waren Ihnen wann wichtig? Tragen Sie Gefühle und Werte in Stichworten oder Symbolen – Sonnen, Blitze, Tränen – in den dritten Abschnitt ein.

So entsteht ein umfassendes Bild, gewissermaßen ein Storyboard Ihres Lebens. Schauen Sie es sich in Ruhe an. Sie werden überrascht sein, wie die Dinge untereinander in Beziehung treten!

Mehr Zufriedenheit ist das Ziel

Was fängt man nun mit all den gesammelten und sortierten Daten an? Wie lassen sich daraus – ganz ohne Anleitung – Schlüsse ziehen, ohne sich selbst zu betrügen oder in Fallen zu tappen? Irmela Wiemann sieht das positiv. „Trauen Sie sich, Ihr eigener Coach zu sein!“, rät die Diplom-Psychologin. „Sie können sich selbst fragen: Was würde ich anderen raten, die Ähnliches erlebt und erlitten haben?“ Wem das schwerfalle, könne auch einen guten Freund zurate ziehen, um Zeitleisten miteinander zu vergleichen und sich gegenseitig mit Neugier zu befragen.

Möchten Sie mit Ihrem Erbe oder Nachlass Bleibendes schaffen?

Wir informieren Sie gern über die verschiedenen Möglichkeiten des Stiftens.

Hilfreich sei in jedem Fall, sich klarzumachen, dass es in jedem/jeder von uns verschiedene Persönlichkeitsanteile gibt, die alle ihre Berechtigung haben. „Da ist ein innerer Teil, der möchte schlimme Erfahrungen ausblenden. Wenn du über schwere Erfahrungen deines Lebens trauerst, dir eigene Fehler verzeihst, dann kannst du freier und unbeschwerter weiterleben.“

Die Angst vor dem Tod wird übrigens kleiner, wenn wir Gewissheit haben, unsere verbleibende Zeit sinnvoll zu gestalten.

Zufriedenheit aus der Beschäftigung mit dem eigenen Leben ziehen. Die schönen Seiten sehen – und wertschätzen. Genau darum gehe es, betont Irmela Wiemann. „Ziel ist es ja, sich der glücklichen Ereignisse im Leben bewusster zu erinnern und daraus Kraft zu schöpfen. Und aus der Rückschau inneren Frieden zu gewinnen bzw. das eigene Schicksal – so wie es war und ist – besser anzunehmen.“ Lerne man Wesentliches vom Unwesentlichen zu unterscheiden, gelinge es, aus jedem Tag das Beste zu machen.

Und noch eine gute Botschaft hat die Expertin: „Die Angst vor dem Tod, mit der sich alle Menschen hin und wieder auseinandersetzen, wird übrigens kleiner oder verschwindet ganz, wenn wir die innere Gewissheit haben, unsere verbleibende Lebenszeit sinnvoll und befriedigend zu gestalten. Dazu gehört auch, sich an kleinen kostbaren Glücksmomenten des täglichen Lebens zu erfreuen.“

Und was jetzt? Ganz einfach: Es gibt viel zu tun. „Am Ende gilt doch nur, was wir getan und gelebt haben – und nicht, was wir ersehnt haben,“ sagte Arthur Schnitzler. Ein Mann, der mitten im Leben stand und oft aneckte. Seine Biografie ist im Übrigen lesenswert.

Gastbeitrag des Online-Magazins Prinzip Apfelbaum, auf der Grundlage des darin erschienen Artikels „Zurückschauen, Zufriedenheit gewinnen“ von Helge Birkelbach, erschienen in der Ausgabe No. 1. Alle Artikel und Ausgaben des Online-Magazins können Sie kostenlos lesen unter: www.das-prinzip-apfelbaum.de

Dies ist ein Gastbeitrag der “Initiative Apfelbaum – mein Erbe tut Gutes“. Die Stiftung Bildung benutzt eine gesellschaftlich bewusst reflektierte Sprache (bspw: mit*, Diskriminierungen vermeidend, Vielfalt der Gesellschaft sichtbar machen u.ä.) in all ihren eigenen Beiträgen, respektiert das Recht am eigenen Wort der*des Autor*in, veröffentlicht auf den eigenen Medien der Stiftung Bildung jedoch nur die der Compliance angepassten Texte.

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Prinzip Apfelbaum. Magazin über das, was bleibt, Ausgabe 4/2020 (PDF-Datei)

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